Die Nähmaschine der Mutter

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Irmtraud Domahs an der Nähmaschine, die einst ihrer Mutter gehörte. Foto: Wilhelm

Irmtraud Domahs stammt aus dem früheren Sudetenland. Wie die meisten Deutschen musste ihre Familie nach dem Krieg die Heimat verlassen. Frank Wilhelm hat ihre Erinnerungen aufgezeichnet.

„Ich stamme aus dem früheren Sudetenland, aus dem Dorf Dittersdorf (heute Detrichov, Tschechien) im Kreis Zwittau (heute Svitavy). Meine Eltern hießen Rosalia (1895-1963) und Wenzel Schneider (1893-1962). Meine Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um uns Kinder sowie die kleine Landwirtschaft, die wir hatten. Wir hielten auch ein wenig Vieh, meist eine Kuh, Ziegen, zwei, drei Schweine und Hühner.

Irmtraud Domahs.
Foto: privat

Mein Vater war Tischler und führte eine eigene Werkstatt. Ich hatte drei ältere Brüder – Walter (geboren 1922), Wilhelm (geb. 1926) und Alfred (geb. 1927) sowie eine sechs Jahre ältere Schwester, die Maria hieß. Mit Spitznamen haben wir sie Mitzi genannt, so wie ich Traudi gerufen wurde. All meine Geschwister sind leider schon tot.

Als der Krieg begann, wurde mein ältester Bruder Walter, der auch Tischler gelernt hatte, zur Wehrmacht eingezogen. Irgendwann erhielten meine Eltern die Nachricht, dass er an der Ostfront schwer verletzt wurde. Er wurde ausgeflogen, ihm musste aber ein Bein amputiert werden.

1945 kamen die ersten Tschechen in unser Dorf und besetzten die großen Höfe, von denen die Familien zuerst vertrieben wurden. Die Vertreibung beziehungsweise Aussiedlung ging in unserem Gebiet etappenweise voran. Wir mussten früh unser gesamtes Vieh abgeben. Auch wenn das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen angespannt war, habe ich mit tschechischen Kindern gespielt. Dadurch habe ich ein paar Brocken Tschechisch gelernt.

Zweite Wand in der Scheune gemauert

Mein Vater hat als Tischler für viele Tschechen gearbeitet, meine Mutter war auf dem tschechischen Bauernhof eingesetzt, bei dem wir unser Vieh abgeben mussten. Eigentlich sollten wir im Sudetenland bleiben. Doch irgendwann wurde uns auch das Haus weggenommen, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als die Heimat zu verlassen. Da meine Eltern für die Tschechen arbeiteten, hatten wir wohl günstigere Bedingungen bei der Aussiedlung. Wir konnten uns länger vorbereiten und durften viele Sachen mitnehmen.

Bevor es losging, haben wir noch verschiedene Dinge versteckt, weil meine Eltern natürlich glaubten, dass sie nach Dittersdorf zurückkehren würden. So mauerte mein Vater eine zweite Wand in der Scheune, sodass eine Art geheimer Raum entstand, Dort stellten wir unsere Fahrräder rein. Im Garten vergruben wir Geschirr.

Für die Reise hatte mein Vater Holzkisten gezimmert, in die wir unsere Sachen packen konnten: Lebensmittel, Geschirr, Bekleidung, Bettwäsche und sogar die Nähmaschine meiner Mutter.

Mit dem Pferdewagen wurden wir im Herbst 1946 von Dittersdorf nach Abtsdorf gebracht, wo es einen Bahnhof gab. In einem Lager wurden alle Sudetendeutschen gesammelt. Dort wurden unsere Kisten noch einmal durchsucht. Wir, meine Eltern, Maria, Alfred und ich, blieben etwa acht Tage in dem Lager Abtsdorf. Irgendwann kam der Zug und wir wurden in Güterwaggons verfrachtet.

Geröstete Brotwürfel gegen den Hunger

Zunächst ging unsere Fahrt bis nach Pirna, wo wir meinen großen Bruder Walter im Lazarett trafen. Nach seiner schweren Verwundung und der Amputation hatten sie ihn noch nicht wieder gesehen. Wir fuhren weiter mit dem Zug. An Zwischenstationen kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls mussten wir in Düsterförde, gelegen zwischen Neustrelitz und Fürstenberg, aussteigen. Von dort ging es zu Fuß weiter in das etwa acht Kilometer entfernte Damshöhe, in ein großes Barackenlager im Wald, das bis 1945 von der SS genutzt worden war.

Im Lager trafen wir Bekannte aus Dittersdorf wieder. Ich weiß noch, dass die Verpflegung sehr knapp ausfiel. Gut, dass unsere Mutter vorgesorgt hatte. Sie hatte zu Hause Brotwürfel geröstet, die wir in einem Sack mitgenommen haben.

Mein Vater fand relativ schnell Arbeit beim Förster in Düsterförde. Auch meine Mutter hat mit im Wald geholfen. Dadurch haben wir dann wohl im Februar 1947 eine Wohnung im Forsthaus bekommen. Ich weiß noch, dass wir mit dem Pferdewagen des Försters über den zugefrorenen Großen Schwaberowsee gefahren sind.

Vater hat mit einem Bekannten eine Tischlerei in Godendorf-Papiermühle eingerichtet. Ich ging ab Herbst 1947 das erste Mal in eine Schule, nach Godendorf-Teerofen. Wir waren acht Klassen in einem Raum, dadurch saß meine ältere Schwester Marie mit im gleichen Klassenraum. Ab der 5. Klasse bin ich dann nach Fürstenberg in die Schule gefahren, mit dem Zug von Düsterförde aus.

Meine zwei Brüder Walter und Wilhelm gingen noch Ende der 40er Jahre in den Westen. Ich konnte sie später nur zu besonderen Anlässen besuchen. Meine Eltern haben noch lange gehofft, nach Dittersdorf zurückkehren zu können, allerdings vergeblich.“

Irmtraud Domahs’ Eltern Mitte der 30er Jahre mit den Söhnen Walter, Wilhelm und Alfred sowie der Tochter Maria. Foto: privat

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