Tod auf dem Lewenberg

Vom / Zeitzeugen

Günter Nevermann. Der Junge starb 1942 in der Schweriner Klinik. Aus dem Buch: Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939-1945. Foto: Familie Nevermann

Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg gehört zu den zentralen Orten der nationalsozialistischen Medizinverbrechen auf dem heutigen Gebiet von Mecklenburg-Vorpommern. Zwischen 1939 und 1945 wurden Patienten nach Schwerin gebracht und ermordet. Mindestens 1.900 Menschen fielen der NS-„Euthanasie“ zum Opfer. Darunter Günter Nevermann, ein Junge aus Wismar.

Lesen Sie hier seine Geschichte, ein Auszug aus: Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939-1945. Autorin: Kathleen Haack, Universität Rostock.

Der 19. Oktober 1942 war für viele Menschen im Deutschen Reich, die den Rasseutopien der Nationalsozialisten und ihren Anhängern nicht entsprachen, ein schicksalhafter. An diesem Tag wurden mehrere tausend Menschen, zumeist jüdischer Herkunft, in Konzentrationslager u.a. nach Treblinka, Riga, Theresienstadt oder Auschwitz gebracht und dort getötet. Das Lebensrecht war diesen Menschen schon lange zuvor abgesprochen worden, ebenso wie psychisch Kranken, so genannten Asozialen oder Andersdenkenden sowie körperlich und geistig Behinderten.

Und so sollte der 19. Oktober 1942 auch das Schicksal des damals achtjährigen behinderten Jungen Günter Nevermann besiegeln: Mit der erzwungenen Wiederaufnahme in die Kinderfachabteilung Lewenberg-Sachsenberg war sein Tod – wie wir heute wissen – nur eine Frage der Zeit. Verantwortlich war in erster Linie der Psychiater Alfred Leu. Verantwortlich waren aber auch die Mitarbeiter der Wohlfahrts- und Gesundheitsämter, des so genannten Sippenarchivs, Pfleger, Krankenschwestern, weitere behandelnde Ärzte u a. m. Sie alle waren beteiligt am System der Aussonderung des Jungen, der seiner „Littleschen Erkrankung“ wegen von der Norm abwich – eine Norm, die sich am gesunden „Volkskörper“ und der Verabsolutierung des vermeintlichen Nutzens des einzelnen für die Gesellschaft orientierte.

Der Junge konnte ohne Hilfe nicht stehen

Günter Nevermann wurde am 5. November 1933 in Wismar geboren. Im Laufe seines ersten Lebensjahres stellte sich heraus, dass der Junge die Beine kreuzte, nur schwer sitzen und ohne Hilfe nicht stehen konnte. Dies verbesserte sich im Lauf der Zeit auch kaum. Die behandelnden Ärzte der Orthopädischen und Pädiatrischen Klinik sowie der Psychiatrischen Poliklinik in Rostock, wo der Junge mehrfach vorgestellt worden war, konstatierten im September 1935:

„Es ist möglich, daß es sich… um Störungen handelt, die in der Richtung einer Little’schen Erkrankung liegen und die dann sehr wahrscheinlich exogen bedingt sind und ihre Ursache vielleicht in cerebralen Blutungen durch die Zangengeburt haben“.

Den Möglichkeiten der Zeit entsprechend, wurde Günter Nevermann kon- servativ mit Spreizbett und -gips behandelt. Eine Einweisung in ein Altersheim lehnte die Mutter 1939 ab. Um die Beschulung des Jungen zu gewährleisten, sollte er dauerhaft in das Elisabethheim Rostock, der ehemaligen Krüppelanstalt der Stadt, aufgenommen werden. Neben der fachärztlichen Betreuung erhielten die Kinder hier eine schulische und, soweit möglich, eine berufliche Ausbildung. Zunächst schien dieses Unterfangen erfolgreich zu sein. Am 27. Februar 1942 wurde dem Wohlfahrtsamt in Wismar durch den leitenden Arzt Dr. Paul-Friedrich Scheel mitgeteilt: „An und für sich kann Günter Nevermann aufgenommen werden, da es uns gelungen ist, für den Patienten ein Bett frei zu machen… Ich empfehle die Aufnahme zunächst zum Zwecke der Beobachtung…, um festzustellen, wie weit der Junge förderungswürdig ist. Vielleicht ist es inzwischen möglich, wie angeregt worden war, durch Sippenuntersuchung festzustellen, wie weit die Familie als förderungswürdig zu betrachten ist. Es empfehlt sich jedenfalls, die Sippenuntersuchung durchzuführen, bevor der Junge auf die Dauer zur Erziehung und Beschulung aufgenommen wird“.

Kein Platz für kranke und schwache Kinder

Es ging hier also schon nicht mehr um das Wohl des einzelnen Kindes. Die Förderungswürdigkeit sollte anhand der Sippe, der kleinsten Zelle der „Volksgemeinschaft“, festgestellt werden. Nationalsozialistische Erziehung stellte nicht das Wohl des einzelnen Kindes mit seinen Bedürfnissen und Wünschen in den Mittelpunkt, sondern das Volksganze: „aus volkseigener (arteigener, rassemäßiger) Bildsamkeit ist durch artgemäße Erziehungsweisen und Erziehungsinhalte der völkische Mensch zu formen“, so Ernst Krieck, einer der führenden Erziehungswissenschaftler im Dritten Reich.

Platz für kranke und schwache Kinder war dabei nicht vorgesehen, denn bei „möglichst geringer Pflege“ bedürfe es derjenigen, die „am leistungsfähigsten und widerstandsfähigsten sind“. Diejenigen, die sich diesem Diktat nicht unterordnen wollten oder konnten, galten als Schädlinge der Volksgesundheit. Dass unter diesen Vorzeichen das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, welches „jedem deutschen Kind… das Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ (§1) zubilligte, auf der Strecke blieb, kann kaum verwundern. Recht war nicht mehr originär, sondern hatte sich dem Dienst an der Volksgemeinschaft unterzuordnen.

„Aus Schulpflicht entlassen“

Und so kam es erst gar nicht zur Beobachtung von Günter Nevermann im Elisabethheim. Obwohl die Erkrankung als exogen angesehen wurde, die Familie noch zwei weitere, gesunde Kinder hatte, ergab die Sippenforschung, dass die „Förderungswürdigkeit des Nevermann nicht angenommen werden kann“. Es wurde empfohlen, „den Jungen unter diesen Umständen nicht zur Beschulung aufzunehmen“. Ohne je eine Chance gehabt zu haben, konstatierte das Büro des Oberbürgermeisters in Wismar am 17. Juni 1942 kurz und knapp: „Wegen Bildungsunfähigkeit aus Schulpflicht entlassen“. Mit dieser Etikettierung war das Schicksal des Jungen im Prinzip entschieden. „Bildungsunfähigkeit“ galt als Aussonderungskriterium, nicht selten entschied es über Leben und Tod.

Weniger als zwei Monate später empfahl der Leiter des Gesundheitsamtes Wismar das Kind „auf dem Lewenberg unterzubringen… aus zwei Gründen. 1. Die Hilfsschule kann es nicht besuchen wegen seiner Lähmung. Da es aber nicht bildungsunfähig ist, muß ihm ein Schulbesuch ermöglicht werden… 2. kann die Mutter den großen Jungen nicht mehr heben und tragen. Der Vater ist im Felde“.

Inwieweit die nun plötzlich doch wieder vermerkte Bildungsfähigkeit den Versuch darstellte, den Jungen unter dem Vorwand der notwendigen Beschulung aus der Familie zu reißen, muss Spekulation bleiben. Fakt ist jedoch, dass die Mutter ihren Sohn am 22. September 1942 auf den Sachsenberg brachte, um ihn schon einen Tag später wieder abzuholen. Of- fensichtlich hatte sie Angst um ihn, eine Angst, die berechtigt war. Die erhöhte Sterberate der seit August 1941 bestehenden Kinderfachabteilung Lewenberg-Sachsenberg, deren Leiter Alfred Leu war, hatte sich in der Bevölkerung bereits herumgesprochen. Die Letalität betrug zwischen 1941 und 1945 über 70 Prozent. Auch in den noch vorhandenen Quellen der Rostocker Universitäts-Nervenklinik aus der Zeit finden sich Belege, dass Mütter sich weigerten, ihre Kinder nach Schwerin verlegen zu lassen.

Wenn nötig, sollte Druck ausgeübt werden

Dass dies nicht selten ein schwieriges Unterfangen war, zeigen die nun folgenden Ereignisse im Fall Nevermann. In einem Brief an das Wohlfahrtsamt Wismar, noch am selben Tag, an dem die Mutter ihren Sohn wieder abgeholt hatte, beschwerte sich Leu über ein solches Vorgehen: „Schon bei der Einlieferung macht die Mutter allerlei völlig unberechtigte Einwendungen und es war vorauszusehen, dass sie der ganzen Sachlage wenig Verständnis entgegenbringen wird… Völlig erstaunt bin ich, daß die Mutter schon heute mit einem Schreiben von dort kommt, nachdem sie berechtigt wäre, das Kind abzuholen. Die Ausstellung derartiger Bescheinigungen ohne vorherige Rücksprache ist gesetzeswidrig. Ich beziehe mich auf den Erlass des Herrn Reichsminister des Innern – Nb 1981/41 1079 Mi … Ich bitte um Aufklärung“.

Damit übte Leu Druck aus. Er wusste, dass die Fürsorgeverbände sowie die Wohlfahrts- und Gesundheitsämter angewiesen worden waren, die Durchführung der Anstaltspflege der in Frage kommenden Kinder in den vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ bestimmten Anstalten anzuerkennen; in diesem Fall Sachsenberg-Lewenberg (Runderlass vom 30. Mai 1941 – IV W I 9/41-7805). Wenn nötig, sollte auf die Eltern Druck ausgeübt werden, „so daß unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist“, und somit dieses den Eltern entzogen werden müsste. Der von Leu oben zitierte Erlass des Reichsministers des Innern Nb 1981/41 1079 Mi zielte auf eine solche, seit September 1941 mögliche Entziehung des Sorgerechts bei Weigerung der Eltern, ihr Kind in einer Kinderfachabteilung unterbringen zu lassen.

Am 19. Oktober 1942 wieder in der Klinik

Auch die Mutter von Günter Nevermann konnte sich diesem Druck nicht entziehen, sodass sie, von dem Wismarer Stadtrat Elbrecht „überzeugt“, ihren Sohn am 19. Oktober 1942 wieder in die Klinik brachte. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihrem an der Ostfront kämpfenden Mann geschrieben. Daraufhin bat er das Gesundheitsamt Wismar in einem Brief noch einmal um Unterbringung seines Sohnes in einem Heim, da „der Junge nicht geistesschwach, sondern nur gelähmt ist.“

Die Antwort erfolgte am 10. November: „Ihr Sohn wurde auf Antrag ihrer Ehefrau am 19.10.42 in das Kinderheim Lewenberg in Schwerin gebracht, nachdem Herr Dr. Scheel erklärte, dass das Kind in ein Krüppelheim nicht aufgenommen werden könne… Es ist dort gut aufgehoben, es wird dort gut betreut und steht unter ärztlicher Aufsicht. Im Interesse des Kindes ist ein Verbleiben in Lewenberg notwendig, da es nur dort die nötige Beschulung erhalten kann… So, wie jetzt, ist die Angelegenheit für ihren Sohn als auch für ihre Ehefrau am besten geregelt“.

Gut einen Monat später war der Junge tot.

Das System bzw. Netzwerk der „Verpflichtung zur Aussonderung“ der für die Gemeinschaft und für künftige Generationen nicht tragfähig erscheinenden Kinder und Jugendlichen wurde durch Fürsorge-, Gesundheits- und Wohlfahrtsämter, Heime sowie Kliniken getragen. Eine Schlüsselfunktion als selektierende Instanzen kam neben Hebammen und Ärzten auf Entbindungsstationen vor allem Pädiatern und Psychiatern zu.

Einziges Ziel: den Jungen töten

Hauptverantwortlich in der Anstalt Sachsenberg war zweifelsohne Alfred Leu; wobei nicht gesagt werden soll, dass die anderen Ärzte und das Pflegepersonal keine Mitschuld trifft. In den gegen Leu geführten Prozessen sagte er aus, dass es sich „ausschließlich um auf niedrigster Stufe, d. h. unter der Null-Linie stehende Menschenwesen“ handelte. (…)

Der Fall Günter Nevermann zeigt ganz deutlich, dass Ärzte wie Leu sich keineswegs in einer „tragischen Zwangslage“ befanden. Im Gegenteil: In vorauseilendem Gehorsam riss er den Jungen aus dem sicheren Schutz der Familie mit dem einzigen Ziel, ihn zu töten.

Günter Nevermann ist nur ein Beispiel von mehreren tausend ermordeter Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus. An ihm wird deutlich, welche Schamlosigkeit sich hinter den Aussagen verbirgt, nur getötet zu haben, um Schlimmeres abzuwenden.

Das Buch

Kathleen Haack, Bernd Kasten, Jörk Pink: Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939-1945. Erinnerungsorte in Mecklenburg-Vorpommern; Band 2. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern

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Hintergrund

Der 8. Mai 1945 gilt als offizielles Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und als Tag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. In Mecklenburg und Vorpommern war der Krieg an vielen Orten aber schon früher vorbei. Die letzten Kampfhandlungen im Nordosten endeten mit dem Zusammentreffen der Roten Armee mit britischen und US-amerikanischen Truppen auf einer Linie zwischen Wismar, Schwerin, Ludwigslust und Dömitz zwischen dem 2. und 4. Mai 1945.

In unserer Serie zum 75. Jahrestag stellen wir Dokumentationszentren, Gedenkstätten, Geschichtsprojekte vor. Dazu: Hintergründe und Lesetipps.

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