„Eine Frage der Legitimation.“ So heißt die Analyse von Steffen Schoon und Nikolaus Werz zur Landtagswahl 1990. Ein Auszug aus: „Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem Ende der DDR.“
1990 erlebten die Bürger in den neuen Bundesländern einen regelrechten Wahlmarathon: Im Januar wurden durch den Runden Tisch die Termine für die Volkskammerwahl (18. März) und die Kommunalwahlen (6. Mai) festgelegt, am 14. Oktober folgten die Landtagswahlen und am 2. Dezember schließlich die Bundestagswahlen. Die Wahlen galten als eine Art Plebiszit über die Frage der deutschen Einheit. Bei der Volkskammer ging es um die Einführung der D-Mark und den schnellsten Weg zur Vereinigung. Da hatte die Union in der Nachfolge des Herbstes 1989 die besseren Karten. „Der schwarze Riese siegt“, schrieb Jens Reich in einer Rückschau. Anders die SPD: „Wir waren praktisch schon vorher ausgeschieden. Wir hatten andere Fragen beantwortet, als die Wähler gestellt hatten. Wir hatten brav in den Kommissionen des Runden Tisches gesessen…“1 Allerdings war diese politische Entwicklung damals wohl keinem klar. Viele Beobachter hatten den Sozialdemokraten wesentlich bessere Chancen bei den Wahlen des Jahres 1990 eingeräumt.
Die große Mehrheit der DDR-Bürger besaß keine Erfahrung mit freien Wahlen. Anfang des Jahres waren das Interesse an und der Andrang zu den Wahlen groß, es sollte im Verlauf von 1990 nachlassen. Die im März frei gewählte Volkskammer hatte am 22. Juli 1990 die Wiedereinführung der im Jahre 1952 aufgelösten Länder beschlossen, d.h. von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Den neu zu wählenden Parlamenten kam in dieser Situation auch die Rolle von Verfassungsgebenden Landesversammlungen zu.2 Es handelte sich bei der Landtagswahl also um den dritten Wahlkampf innerhalb weniger Monate. Zu seinen Themen gehörten nun bereits die Nebenwirkungen des begonnenen Transformationsprozesses, zumal Firmenpleiten, Entlassungen und ungeklärte Eigentumsfragen sich in ihren Auswirkungen abzeichneten.
Die Landtagswahl war gerade mit Blick auf Mecklenburg-Vorpommern, das im 20. Jahrhundert eine sehr kurze demokratische Wahlgeschichte aufweist,3 von öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse: Nach der konstituierenden „Urwahl“ zur Volkskammer ging es u.a. um die Frage, welche Konturen die Parteienlandschaft in den neuen Ländern annehmen würde, welchen Stellenwert Ost- bzw. Westkandidaten haben würden und wie sich die geringe Parteienbindung auswirken könnte. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Wahlen des Jahres 1990, bei denen die Vereinigungseuphorie dominierte, zeichnete sich ein gewisses Krisenbewusstsein ab. Eine Allensbach-Umfrage vor den Landtagswahlen stellte fest, dass über 20 Prozent keine Auskunft über ihre Wahlabsicht geben wollten bzw. ob sie überhaupt vorhatten zur Wahl zu gehen.
1 Jens Reich: Der schwarze Riese siegt. 18. März 1990: Die erste und die letzte freie Volkskammerwahl der DDR, in: Die Zeit, 17.3.1995.
2 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die Landtagswahlen in der ehemaligen DDR am 14. Oktober 1990: Föderalismus im wiedervereinten Deutschland – Tradition und neuen Konturen, in: ZParl, 22(1991)1, S. 5. Ein Gesamtüberblick zu den Wahlen Anfang der 1990er Jahre bei: Gerhard A. Ritter/ Merith Niehuss: Wahlen in Deutschland 1990-1994, München 1995.
3 Nikolaus Werz/Jochen Schmidt: Wahlen in Mecklenburg und Vorpommern, Rostock 1996. Rostocker Informationen zu Politik und Verwaltung, Heft 6 fasste historische Ergebnisse und den damaligen Forschungsstand zusammen. Umfassend und unter stärker empirischen Gesichtspunkten: Steffen Schoon: Wählerverhalten und politische Traditionen in Mecklenburg und Vorpommern (1871-2002). Eine Untersuchung zur Stabilität und strukturellen Verankerung des Parteiensystems zwischen Elbe und Ostsee, Düsseldorf 2007.
Bei der Volkskammerwahl wollten nur sieben Prozent darüber keine Auskunft geben. Hinzu kam, dass selbst die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien vielen Wählern in den künftigen neuen Ländern bis Ende September 1990 unbekannt waren.4
Die Vergleichbarkeit zwischen den Wahlen des Jahres 1990 war gering. So konnte man die Kommunalwahlen in der DDR, bei denen neben den Parteien auch gesellschaftliche Organisationen und Gruppen kandidierten, kaum mit Wahlen auf der nationalen Ebene vergleichen. Dort wo die CDU in einer Listenverbindung auftrat, wurden ihr in der Regel alle Stimmen dieser Verbindung zugerechnet.5 Das Wahldatum 1990 war im Übrigen politisch bewusst gewählt worden, denn ein Jahr zuvor, am 7. Mai 1989, fand die letzte realsozialistische Kommunalwahl statt, mit erheblicher Wahlfälschung. Allerdings zeigten sich bei der Kommunalwahl bereits einzelne Themen, die dann ebenfalls bei der Landtagswahl wieder auftauchen sollten. Obwohl westdeutsche Investoren und „Glücksritter“ schon die Städte und Dörfer durchstreiften, gab es noch keine gültige Kommunalverfassung und Gemeindeordnung. Die Schweriner hatten zudem bereits „auf Ortsschildern und amtlichen Briefköpfen ihre Stadt als Hauptstadt des Landes Mecklenburg- Vorpommern ausgewiesen, als wäre die Fehde mit Rostock um diese Ehre schon ausgefochten.“6
Die Interpretation des Ergebnisses der Volkskammerwahl fiel unterschiedlich aus. Im „Mecklenburger Aufbruch. Unabhängige Wochenzeitung in Mecklenburg und Vorpommern“, die der Bürgerbewegung und den Sozialdemokraten nahestand, hieß es auf der ersten Seite in einem Kommentar zu den Märzwahlen 1990 und dem Abschneiden der CDU: „Dahinter vermute ich weniger ein politisches Bekenntnis, als vielmehr die durchaus richtige Vermutung des sogenannten ‚Mannes auf der Straße‘ dass hier der leichtere Weg zur Einheit und noch mehr Wohlstand geebnet wird.“ Und am Ende des Kommentars wurde aus dem „Faust“ zitiert: „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles, ach, wir Armen.“7
In Mecklenburg-Vorpommern bzw. genauer den noch existierenden drei Nordbezirken wurde die CDU zwar auch stärkste Kraft, erzielte mit 36,3 Prozent aber nur das viertbeste Resultat in den neuen Ländern. Dagegen konnte die PDS mit jeweils über 20 Prozent vergleichsweise gut abschneiden.
Tabelle 1: Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern im Frühjahr 1990 (Stimmenanteile in Prozent)
4 Elisabeth Noelle-Neumann: Die heimischen Kandidaten sind kaum bekannt, in: FAZ, 10.10.1990.
5 Äpfel mit Birnen verglichen. Forschungsgruppe Wahlen: Kritische Anmerkungen zu einer schnellen Interpretation, in: Die Zeit, 11.5.1990.
6 Klaus Brill: Ein Anfang, nach dem vieles ungewiß bleibt. Kommunalwahlkampf am Beispiel Mecklenburgs, in: SZ, 7.5.1990.
7 Mecklenburger Aufbruch, 23.3.1990, S.1.
Wahlkampf und Stimmungslage
Das Wahlrecht zur Landtagswahl war ähnlich angelegt wie im Bundeswahlgesetz, es galt das Zweistimmenwahlrecht und die Fünf-Prozent-Klausel. Allerdings wussten nur 27 Prozent der Wahlberechtigten kurz vor dem Wahlgang, dass sie zwei Stimmen abgeben konnten.8 Singulär an der Wahl war, dass die Wählerinnen und Wähler Volksvertretungen, d.h. die Landtage, bestimmten, die es bis dahin nur auf dem Papier gab, nämlich in dem von der Volkskammer beschlossenen „Ländereinführungsgesetz“. Von daher war der 14. Oktober in der Geschichte des bundesrepublikanischen Föderalismus sowohl Zäsur als auch Neubeginn.9 Mit 1,42 Mio. lag die Zahl der Wahlberechtigten um knapp 30.000 niedriger als bei der Volkskammerwahl, wofür vor allem die Abwanderung verantwortlich war.
Den meisten Bürgern waren die Kandidaten unbekannt. Sie wussten zwar möglicherweise für welche Partei sie kandidierten und eventuell sogar etwas über das Programm, Kenntnisse über die politischen Biographien lagen aber noch nicht vor.
Im Wahlkampf waren die thematischen Unterschiede zwischen CDU und SPD eher gering: In Mecklenburg-Vorpommern solle ein Urlauberparadies mit sanftem Tourismus entstehen, ein ausgebautes Straßennetz und eine Ost-West-Autobahn. Die Spitzenkandidaten der beiden Parteien vermieden eindeutige Aussagen zur Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, da die Frage, ob es die Hafen- und Universitätsstadt Rostock oder die vormalige Residenzstadt Schwerin sein sollte, stark polarisierte. Relativ frühzeitig zeichnete sich ab, dass die CDU in Vorpommern bessere Voraussetzungen besaß als in Mecklenburg, wo die neugegründete SDP/SPD den Aufbau der Partei forcierte. Der Organisationsprozess der Sozialdemokratie und der Wandel der CDU begannen zu einem Zeitpunkt, als die runden Tische noch funktionierten und ihrerseits Vorstellungen entwickelten.
Der CDU-Spitzenkandidat Prof. Dr. Alfred Gomolka aus Greifswald war wenige Wochen vor der Wahl noch ein unbeschriebenes Blatt. Er war mit 18 Jahren in die Partei eingetreten und vorübergehend wieder ausgetreten, 1971 wurde er jedoch wieder Mitglied. Bei den Märzwahlen 1990 erfolgte die Wahl in die Volkskammer, wo er bis zum Vize-Präsidenten aufstieg. Der 48-jährige Geograph erklärte im Wahlkampf, er wolle dafür sorgen, dass hier nicht das „Armenhaus Deutschlands“ entstehe.10 Seine Kandidatur erfolgte auch deswegen, weil der eigentlich von der Parteibasis favorisierte Günther Krause als CDU-Bundesminister ohne Geschäftsbereich und mit einschlägigen Erfahrungen als Unterhändler bei der Abfassung des Einigungsvertrages in Bonn gebunden war.
Die SPD war im Unterschied zur CDU eine Neugründung. Sie erhielt beim Aufbau Unterstützung aus der alten Bundesrepublik, in Rostock waren es u.a. die Kontakte mit Bremen, in Schwerin war der Einfluss aus Schleswig-Holstein ausgeprägter. Bei einzelnen Städten gingen von den Städtepartnerschaften gewisse Impulse für die gesellschaftliche Organisation aus, als Beispiele seien Stralsund – Kiel, Greifswald – Osnabrück, Schwerin – Wuppertal, Wismar – Lübeck, Bad Doberan – Bad Schwartau und Neubrandenburg – Flensburg genannt.
8 Infas-Report Wahlen: Die fünf neuen Bundesländer 1990, Bonn-Bad Godesberg 1990, S. 1.
9 Ebenda, S. 6.
10 SVZ, 15.10.1990.
Gerade weil sie keine Blockpartei war, entstanden bei den Mitgliedern und politischen Beobachtern Hoffnungen auf ein gutes Ergebnis, hinzu kam die historische Tradition der SPD in Städten wie Rostock und Wismar. In der Anfangsphase bestand ein einjähriges Aufnahmeverbot für SED-Mitglieder bei der SPD. Viele derjenigen, die damals für die SPD kandidierten, waren um die 40 Jahre alt.
Schon bei der ersten Landtagswahl demonstrierten CDU und SPD Heimatverbundenheit. Umstritten blieb die Frage der Auswahl des Spitzenkandidaten der SPD, zumal die Entscheidung für Dr. Klaus Klingner, bislang Justizminister in Schleswig-Holstein und dort u.a. Vorsitzender des Barschel-Untersuchungsausschusses, zu einer gewissen Verstimmung bei den Sozialdemokraten im Land führte. Einige Irritationen gab es im Vorfeld dadurch, dass Klingner laut Kandidatenliste nicht für den Landtag aufgestellt wurde, was aber zur Ausübung des Amtes des Ministerpräsidenten nicht notwendig war. Es war indessen ein indirekter Hinweis, dass er im Falle eines zweiten Platzes nicht die Rolle des Oppositionsführers übernehmen wolle.
Klingners Wahlspruch lautete: „Aufräumen, Aufbauen und Zukunft gewinnen “. In einem Interview sah er in der Tatsache, dass er ein „Westimport“ sei, kein Problem, denn die junge Sozialdemokratie in der DDR brauche die Unterstützung durch die Landesverbände der Bundesrepublik, schließlich könne sie nicht auf einen funktionierenden Apparat zurückgreifen. Der Vorwurf, dass Klingner ein Westimport war, traf indessen ohnehin nicht zu. Bis 1954 lebte er in Neustrelitz, Rechlin-Vietzen (Müritz) und in Ludwigslust, weshalb die SPD auch mit „einer von uns“ plakatierte. Er galt zu DDR-Zeiten als „gesellschaftlich unzuverlässig“, erhielt keine Studiengenehmigung und ging zur Ausbildung nach Hamburg, wo er zum Dr. jur. promovierte.11 Klingner selbst präsentierte seinen unmittelbaren Führungsstab als überwiegend einheimisches Team mit West-Verstärkung. Zu den „Entwicklungshelfern“ aus dem Westen zählten Staatssekretär Dr. Wolfgang Bodenbender aus Nordrhein-Westfalen für das Ressort Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie der langjährige Büroleiter von Willy Brandt, Dr. Klaus Henning-Rosen, der als Interessenvertreter des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Bonn und im Bundesrat vorgesehen war. Nach den Vorstellungen der SPD sollte die damals 48-jährige Sigrid Keler aus Ribnitz-Damgarten die erste Landtagspräsidentin werden. Der SPD-Landesvorsitzende, Dr. Harald Ringstorff, stand für das Wirtschafts- oder Umweltressort zur Verfügung. Dr. Peter Kauffold sollte das Landwirtschaftsministerium übernehmen, für Bildung und Kultur war die Diplom-Lehrerin Karin Kunze aus Rostock gesetzt. Käthe Woltemath galt als künftige Bürgerbeauftragte, sie musste später wegen Stasi-Verstrickungen von allen Parteiämtern zurücktreten.12
Spitzenkandidat der PDS war Johann Scheringer, damals 54 Jahre alt. Er rechnete selber in einem Interview nicht damit, dass er der stärksten Partei angehören würde, äußerte aber seine Hoffnung, dass ohne die PDS eine tragfähige Politik nicht möglich sei.13 Diese Erwartungshaltung erschien teilweise berechtigt, denn zumindest bei den Ergebnissen zur Volkskammerwahl 1990 lagen die Postkommunisten mit 22,8 Prozent deutlich über dem Durchschnitt in der DDR (16,4 Prozent).
11 Mecklenburger Aufbruch, 15.8.1990, S. 3.
12 SVZ, 5.10.1990.
13 SVZ, 6.10.1990.
Als folgenreich sollte sich die Entscheidung der verschiedenen aus der Bürgerbewegung hervorgegangenen Gruppen (Neues Forum, die Grüne Partei und Bündnis 90) erweisen, bei der Wahl getrennt anzutreten. Hierbei spielten in erster Linie persönliche Aspekte und Animositäten eine Rolle.14 Dieser Sonderweg mit drei Gruppierungen wurde nur in Mecklenburg-Vorpommern eingeschlagen
Unterstützung durch die Prominenz auf der Bundesebene erhielten v.a. CDU und FDP; im Vorfeld der Wahl trat auch Helmut Kohl vor über 20.000 Menschen in Schwerin und später in Rostock auf. Bei der SPD war die Wahlkampfhilfe aus dem Westen durch Bundesprominenz weniger sichtbar, immerhin stand ein Teil der bundesweit bekannten Sozialdemokraten dem Vereinigungsprozess reserviert gegenüber.
Die Stimmungslage in Mecklenburg-Vorpommern unterschied sich in gewisser Hinsicht von der in den anderen neuen Ländern, die am selben Tag ihren Landtag wählten. Die drei Nordbezirke hatten in der DDR-Zeit durchaus von der zentralistischen Strukturpolitik der SED profitiert. Die DDR-Staatspartei forcierte v.a. in den 1960er und 1970er Jahren massiv den industriellen und infrastrukturellen Ausbau des vorrangig landwirtschaftlich geprägten Nordens. Gezielt wurden Industriebetriebe angesiedelt, z.B. die Werften. Aber auch in vielen kleinen Städten entstanden Industrie- und Baubetriebe. In Rostock wurde ein Überseehafen gebaut, wodurch die Hansestadt zur Drehscheibe des Welthandels der DDR wurde. Darüber hinaus stationierte die SED-Führung in erheblichem Umfang Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) im Land. Dieser Aufbau ging mit einer gezielten Zuwanderungspolitik einher. Vor allem junge und gut ausgebildete Facharbeiter, Ingenieure, Arzte, Lehrer usw. aus dem Süden der Republik fanden hier Arbeit und die begehrten modernen Wohnungen. In der Folge stieg die Einwohnerzahl des Landes rasant an. 1990 besaß Mecklenburg-Vorpommern infolgedessen die jüngste Bevölkerung aller deutschen Bundesländer.15 Es verwundert daher nicht, dass es im Land einen höheren Anteil von Angehörigen der sogenannten „DDR-Dienstklasse“16 gab und die Einschätzungen und Bewertungen zur deutschen Wiedervereinigung dementsprechend ausfielen. So freuten sich „nur“ 75,8 Prozent der Menschen im Land über die Deutsche Einheit, im Rest der ehemaligen DDR waren es über 83 Prozent. Mit der Demokratieentwicklung in der DDR nach der friedlichen Revolution waren nur 34,3 Prozent zufrieden, in den anderen Ländern zusammen dagegen eine klare Mehrheit von über 52 Prozent. Die Schuld an der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes sahen die Mecklenburger und Vorpommern zwar zu 68 Prozent bei der SED und zu 27 Prozent bei der aktuellen DDR-Regierung. In den anderen neuen Ländern machten jedoch über 78 Prozent die frühere Staatspartei für die Misere verantwortlich und nur 15 Prozent die demokratisch gewählte DDR-Regierung. Diese Einschätzung bezog sich im Übrigen noch nicht auf die Arbeit der Treuhandgesellschaft, deren oftmals umstrittene Entscheidungen erst im Jahr 1991 für Unmut sorgten. Die Menschen im Norden sahen zudem deutlich skeptischer in die Zukunft als beispielsweise die Sachsen.
14 Vgl. Britta Saß: Von der Bürgerbewegung zur Partei – Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg- Vorpommern 1989-1993, in: Steffen Schoon/Johannes Saalfeld/Britta Saß: Kein Land(tag) in Sicht? – Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern, München 2006, S. 13- 57, hier: S. 33-44.
15 Vgl. Steffen Schoon: Politische Kultur in Mecklenburg-Vorpommern: Historische Belastungen, pragmatisches Handeln und norddeutsche Identität, in: Nikolaus Werz/Martin Koschkar (Hrsg.): Regionale politische Kultur in Deutschland. Fallbeispiele und vergleichende Aspekte, Wiesbaden 2016, S. 211-234.
16 Michael Brie: Das politische Projekt PDS – eine unmögliche Möglichkeit. Die ambivalenten Früchte eines Erfolgs, in: Michael Brie/Martin Herzig/Thomas Koch (Hrsg.): Die PDS. Postkommunistische Kaderorganisation, ostdeutscher Traditionsverein oder linke Volkspartei? Empirische Befunde und kontroverse Analysen, Köln 1995, S. 9–38.
Offenbar gab es zumindest eine Ahnung, dass die „Errungenschaften“ der DDR-Strukturpolitik in der Region nach Wegfall der wirtschaftlichen und politischen Abschottung und unter demokratischen Rahmenbedingungen nicht zu halten seien, und Mecklenburg-Vorpommern noch stärker als der strukturell besser aufgestellte Süden von der beginnenden Transformation betroffen sein würde.
Nur knapp 57 Prozent der Nordostdeutschen erwarteten eine Besserung der Lage in einem Jahr, in den anderen Ländern waren dies fast 68 Prozent. 63 Prozent schauten eher mit Sorge auf die kommende Entwicklung, nur 37 Prozent freuten sich primär über die Beendigung der deutschen Teilung. In den anderen neuen Ländern war dieses Verhältnis mit 46 zu 53 Prozent fast ausgeglichen.
Tabelle2: Vergleich der Einschätzungen der Wahlberechtigten in Mecklenburg- Vorpommern und den anderen neuen Bundesländern zur Landtagswahl 1990 (Angaben in %)
Die Landtagswahlen in der ehemaligen DDR insgesamt waren vorrangig von der Frage geprägt, wie der notwendige wirtschaftliche Aufschwung gelingen kann und damit verbunden, wem man die Lösungskompetenz zuschrieb. Die Bürger in Mecklenburg- Vorpommern zeigten sich zu 60 Prozent davon überzeugt, dass eine CDU-geführte Landesregierung die Wirtschaft am ehesten ankurbeln könne. Mit weitem Abstand folgte hier die SPD, der dies nur knapp 22 Prozent zutrauten. Bei der Bekämpfung der rasant steigenden Arbeitslosigkeit wiesen die Bürger jedoch den Sozialdemokraten und der Union gleichermaßen die Kompetenz zu. In den anderen neuen Ländern war dagegen auch hier ein deutlicher Unterschied sichtbar.
Tabelle 3: Lösungskompetenzen in Mecklenburg-Vorpommern und in den anderen neuen Bundesländer zur Landtagswahl 1990 (Angaben in Prozent)
Interessanterweise bevorzugten die Wahlberechtigten eher den SPD-Kandidaten Klaus Klingner, der überdies auch etwas besser bewertet wurde als der CDU-Spitzenkandidat Gomolka. Vermutlich war aber die Frage, wer Ministerpräsident des neuen Landes wird, weniger bedeutsam, insbesondere im Vergleich zur Lösungskompetenz der Parteien beim entscheidenden Thema Wirtschaft. Überdies ist davon auszugehen, dass die Bewertung von Bundeskanzler Helmut Kohl genau wie bei der Volkskammerwahl für den Ausgang der Wahl wichtiger war, als die Einschätzung des jeweiligen Landes-Spitzenkandidaten.17
17 Zum Wahlausgang schrieb z.B. Udo Knapp einen Kommentar: „Kohl gewann die Landtagswahl“, in: Mecklenburger Aufbruch, 24.10.1990, S. 4. Schon eine Woche zuvor hatte Regine Marquardt an gleicher Stelle festgehalten: „Diese Wahl war eine Kohlwahl.“, in: MA, 17.10.1990, S.1.
Tabelle 4: Bewertungen der Spitzenkandidaten Alfred Gomolka (CDU) und Klaus Klingner (SPD)
Wahlergebnis und Strukturmuster des Wählerverhaltens
Bei der dritten Wahl innerhalb von drei Monaten war das Interesse gesunken, Beobachter konstatierten „ein eher müdes, verhaltenes Klima.“18 Der Rückgang der Wahlbeteiligung in allen fünf neuen Bundesländern zeugt von einer gewissen Wahlmüdigkeit. Mecklenburg- Vorpommern wies im Vergleich mit 64,7 Prozent die niedrigste Wahlbeteiligung auf.
Das Ergebnis der Landtagswahl bestätigte im Wesentlichen den Wahltrend des gesamten Jahres. Die CDU wurde mit 38,3 Prozent deutlich vor der SPD (27,0 Prozent) Wahlsiegerin. Im Vergleich zu den anderen neuen Ländern fiel das Unionsergebnis allerdings unterdurchschnittlich aus, die Sozialdemokraten schnitten dagegen besser als im Süden der ehemaligen DDR ab. Die PDS büßte zwar erheblich gegenüber der Volkskammerwahl ein, erzielte dennoch das beste Resultat aller neuen Länder. Hier wirkte sich der vergleichsweise hohe Anteil von Angehörigen der „DDR-Dienstklasse“ positiv aus. Die SED- Nachfolgepartei profitierte insofern von der Bevorzugung der Region zu DDR-Zeiten. Die FDP schaffte mit 5,5 Prozent den Sprung in den Landtag. Für die Parteien der Bürgerbewegung Grüne Partei, Bündnis 90 und Neues Forum wirkte sich dagegen die strategische Fehlentscheidung, getrennt zur Wahl anzutreten, verheerend aus. Alle drei Formationen scheiterten jeweils für sich an der 5-Prozent-Hürde. Zusammen kamen sie auf 6,4 (Grüne Partei, Bündnis 90) bzw. sogar 9,3 Prozent (mit Neuem Forum).
Tabelle 5: Ergebnisse der Landtagswahlen 1990 in Mecklenburg-Vorpommern und den neuen Bundesländern (Stimmenanteile in Prozent)
Die regionale Verteilung der Stimmenergebnisse wies eine ausgeprägte Wählerstruktur auf, die aufgrund der fehlenden Wahlerfahrungen im Land zunächst überraschend war. In den nachfolgenden Wahlen entwickelten sich diese Besonderheiten zu einem festen Strukturmuster des Wählerverhaltens in Mecklenburg-Vorpommern.
So erreichte die CDU in Vorpommern mit rund neun Prozentpunkten Unterschied ein deutlich besseres Ergebnis als im mecklenburgischen Landesteil. Demgegenüber schnitt die SPD in Mecklenburg erkennbar besser als im Osten ab. Die Ursachen hierfür liegen vermutlich vor allem in der noch mehr ländlich geprägten Struktur Vorpommerns, die der Union zugutekommt.
18 Infas-Report, S.6.
Hierfür spricht u.a. das ausgeprägte Land-Stadt-Gefälle im Ergebnis der Christdemokraten. Im ländlichen Raum erzielten sie die stärksten Ergebnisse, fast 50 Prozent in den Gemeinden mit weniger als 1.000 Einwohnern in Vorpommern. In den großen Städten, v.a. in Mecklenburg, erreichte die Union dagegen ihre schlechtesten Ergebnisse. Möglicherweise wirken bei den regionalen Unterschieden aber auch historische Traditionslinien nach, denn Vorpommern war vor 1933 eine konservative Hochburg, während Mecklenburg eine starke sozialdemokratische Wählerschaft besaß.19
Im Gegensatz zur SPD, die eine nahezu ausgeglichene Verteilung ihres Wahlergebnisses in den einzelnen Gemeindegrößenklassen hatte, stellten die bisherigen DDR-Bezirksstädte Rostock, Schwerin und Neubrandenburg die absoluten Hochburgen für die PDS dar. Hier gab es eine besonders große Konzentration ihres Stammwählermilieus, zu dem v.a. die administrativen und wissenschaftlich-technische Eliten der DDR gehörten.
19 Vgl. Schoon, 2007.
Tabelle 6: Ergebnisse der Landtagswahl 1990 in Mecklenburg-Vorpommern in Gemeindegrößenklassen und nach Landesteilen (Mittelwerte der Stimmenanteile in Prozent)
Die Union wurde von den Über-50jährigen weit überdurchschnittlich gewählt, insbesondere von den Frauen. Die SPD besaß bei Frauen über 60 Jahren ihre stärkste Wählergruppe, die PDS verzeichnete hier dagegen ihr schlechtestes Resultat. Sie profitierte von den Männern über 60 Jahren. Demgegenüber wurden Bündnis 90 und Die Grünen vor allem von den jüngeren Alterskohorten, insbesondere von Frauen unterstützt.
Im Wahlverhalten nach Berufsgruppen spiegelte sich auch das entscheidende Wahlkampfthema wider: die Umgestaltung der Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Kompetenzzuschreibung lag hier wie bereits beschrieben klar bei der Union, so dass es nicht verwundert, dass die CDU unter Arbeitern ähnlich wie in den anderen neuen Ländern eine außerordentlich hohe Zustimmung erfahren konnte, übertroffen nur noch von der Gruppe der Selbständigen, die jedoch nach bekanntem bundesrepublikanischen Muster eine typische Klientel der CDU sind. Die SPD erzielte bei Arbeitern und Angestellten nur leicht überdurchschnittliche Ergebnisse, dagegen konnte die PDS nicht überraschend in der Gruppe der leitenden Angestellten deutlich besser abschneiden.
Als wirkungsmächtigster Prädiktor des Wahlverhaltens erwies sich die Konfessionszugehörigkeit, was sich auch in den nachfolgenden Wahlen zeigen sollte. Über zwei Drittel der Katholiken wählten die CDU. Neben der aus der Bundesrepublik bekannten Verbundenheit wirkte sich vermutlich auch die Diaspora-ähnliche Situation der Katholiken in Mecklenburg-Vorpommern (nur etwa drei Prozent der Bevölkerung) auf das Unionsergebnis positiv aus.20 Aber auch unter den Protestanten errang die CDU mit fast 56 Prozent ein herausragendes Ergebnis. Die Union wurde demnach nicht nur als „christliche“ Partei wahrgenommen, sondern profitierte auch von ihrer dezidierten Haltung gegen das untergegangene SED-Regime bzw. gegen sozialistische Ordnungsvorstellungen. Dagegen wurde die SPD stärkste Partei unter den Konfessionslosen. Aber auch unter den Protestanten fanden die Sozialdemokraten eine große Unterstützung. Die PDS wiederum fand bei konfessionell gebundenen Wählern fast gar keine Zustimmung und war fast ausschließlich auf die Zustimmung der Konfessionslosen angewiesen. Die Säkularisierungspolitik der SED in den vergangenen 40 Jahren wirkte an dieser Stelle deutlich nach.
20 Als erster Einstieg zu diesem noch wenig erforschten Verhältnis vgl. Yves Bizeul/Nikolaus Werz: Kirchen und Religiosität in Mecklenburg-Vorpommern im Wandel, in: Martin Koschkar/Christian Nestler/Christopher Scheele (Hrsg.): Politik in Mecklenburg-Vorpommern, Wiesbaden 2013, S. 189-202.
Tabelle 7: Wahlverhalten in sozialen Gruppen bei der Landtagswahl 1990 in Mecklenburg-Vorpommern (Stimmenanteile in Prozent)
Nach der Wahl: Regierungsbildung und Beginn der ersten Legislaturperiode
Der Wahlabend verlief hochspannend, denn kurz nach Mitternacht kippte die vermeintlich sichere CDU-FDP-Mehrheit. Günther Krause zitierte vor den Kameras Konrad Adenauer: Die Mehrheit bestehe aus 50 Prozent plus einer Stimme.21 Zum Zünglein an der Waage wurde dadurch der Rostocker SPD-Kandidat Wolfgang Schulz, der seine Partei wegen Angriffe und Verdächtigungen über eine Stasi-Mitgliedschaft, die sich später jedoch nicht bestätigten, verlassen hatte. Die CDU erklärte relativ zügig ihre Bereitschaft mit Schulz zusammenzuarbeiten. Dies war notwendig geworden, da im neugewählten Landtag von den 66 Stimmen auf CDU und FDP einerseits sowie auf SPD und PDS andererseits jeweils 33 Mandate entfielen. Schulz erklärte, dass er für eine handlungsfähige Regierung sorgen wolle, Gomolka habe ihm zugesagt, dass er das Amt des Bürgerbeauftragten erhalte,22 später erhielt er einen Posten als Parlamentarischer Staatssekretär und wirkte als Bürgerbeauftragter. Vertreter des SPD-Kreisvorstandes Rostock und des Ortsvereins Lütten Klein empfanden die Handlungsweise ihres ehemaligen Parteimitglieds als Wählertäuschung und bezeichneten den danach in die CDU eingetretenen Schulz als Überläufer. Die Personalie Schulz sorgte zu einer lang anhaltenden Verstimmung zwischen SPD und CDU.
Auf der konstituierenden Sitzung des Landtages am 26. Oktober 1990 wurde Rainer Prachtl (CDU) zum ersten Landtagspräsidenten gewählt. Er hatte keinen Gegenkandidaten, 54 der 66 Abgeordneten stimmten für ihn. Wahrheit und Schuld, so erklärte er, dürften nicht verdrängt werden. „Aber mit Nachdruck möchte ich auch sagen: Ohne Versöhnung und ohne Erbarmen erfrieren sowohl Wahrheit als auch Recht“.23 Die Wahl des Ministerpräsidenten endete mit einer Überraschung, als 36 Stimmen für Gomolka gezählt wurden, d.h., dass auch zwei Abgeordnete der Opposition für ihn gestimmt haben müssen. Der Landtag in Mecklenburg-Vorpommern konstituierte sich übrigens als erstes Parlament der ostdeutschen Länder. Auch Gomolka wurde am 27. Oktober als erster in das Amt des Ministerpräsidenten gewählt. „Arm, aber schnell“24, hieß es daher in den damaligen Kommentaren.
Im Kabinett von Ministerpräsident Dr. Alfred Gomolka besetzte die CDU sechs Ministerien: Dr. Georg Diederich übernahm das Innenministerium, Bärbel Kleedehn das Finanzministerium und Martin Brick das Landwirtschaftsministerium. Der 54-jährige Pfarrer Oswald Wutzke wurde Bildungs- und Kultusminister. Als jüngste Ministerin verantwortete die 30jährige Dr. Petra Ullmann den Bereich Umwelt und Natur.25 Einziger „Westimport“ war der Jurist Dr. Ulrich Born als Justizminister. Die FDP besetzte mit Konrad-Michael Lehment (Wirtschaft) sowie mit dem Arzt Dr. Klaus Gollert (Sozialministerium) zwei Ressorts.
Auf dieser Landtagssitzung wurde auch über die Hauptstadtfrage entschieden. Die Abstimmung fiel relativ eindeutig am zugunsten Schwerins aus: 40 der Abgeordneten wählten die Residenzstadt zur neuen Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, nur 25 Politiker votierten für Rostock, einer enthielt sich der Stimme.
21 FAZ, 15.10.1990.
22 Hamburger Abendblatt, 23.10.1990.
23 SVZ, 27.10.1990.
24 Alfred Gomolka: Zwischen Zaudern und Zuversicht 1989-1995, in: 1000 Jahre Mecklenburg: Geschichte und Kunst in einer europäischen Region, Rostock 1995, S. 93-103, hier S. 94.
25 SVZ, 26.10.1990.
Für die allermeisten Abgeordneten begannen nun die Mühen der Ebene, wobei sie alle neu anfangen und „eigentlich alles gleichzeitig machen“ mussten.26 Die Frage, wie man eine kleine Anfrage schreibt, avancierte zu einem wichtigen Thema. Gerade in der Anfangsphase war man auf Berater und Juristen aus dem Westen angewiesen, die sozusagen aus der zweiten Reihe agierten. Beklagt wurde von Abgeordneten die hohe Erwartungshaltung, die westliche Journalisten an den Tag legten. Zuweilen wurden die westlichen Berater sogar für Polarisierungstendenzen in den Parteien verantwortlich gemacht, wobei hierbei noch die Idee des Runden Tisches nachgewirkt haben mag. Da die CDU nur eine Stimme Mehrheit im ersten Landtag hatte, ergab sich daraus die Notwendigkeit einer hohen Fraktionsdisziplin.
Im ersten Landtag kam insbesondere die CDU als führende Regierungspartei in Turbulenzen, die sich teilweise aus dem Transformationsprozess resultierten. Anfang 1992 geriet Ministerpräsident Gomolka in der sogenannten Werftenkrise um den Verkauf des ehemaligen DDR-Schiffbaukombinats an die Bremer Vulkan AG unter Druck. Nachdem er sich gegen den vollständigen Verkauf der Werften an das Unternehmen ausgesprochen hatte, rückten Teile der Partei von ihm ab, der damalige Landesvorsitzende der CDU Mecklenburg-Vorpommern und Bundesminister für Verkehr Günther Krause betrieb seine Ablösung.27 Gomolka wiederum entließ im März 1992 den Minister für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Ulrich Born (CDU) wegen „Illoyalität“ aus seinem Amt, worauf ihm die CDU-Landtagsfraktion das Vertrauen entzog. Am 16. März 1992 erklärte Gomolka seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten, der bisherige Generalsekretär der CDU Mecklenburg-Vorpommern Berndt Seite wurde vom Landtag zu seinem Nachfolger gewählt. Er galt als „Tierarzt mit weißer Weste“ 28 und bezeichnete sich selber als neues CDU- Mitglied, da er nicht aus der früheren Blockpartei kam. Der Wechsel von Gomolka zu Seite wurde von dem Wechsel von Krause zu Angela Merkel begleitet. Im Juni 1993 wurde sie zur Landesvorsitzenden der CDU gewählt.
Zu den Besonderheiten der Landtagswahl gehörte im Übrigen, dass sie eine Funktionselite ins Parlament brachte, die sich mehrheitlich nicht als Elite verstand. Im Unterschied zu den westdeutschen Parlamenten wimmelte es nicht von Juristen. 1995, d.h. nach der zweiten Landtagswahl, waren überhaupt nur zwei von ihnen vertreten: Ulrich Born, der bis 1992 Justizminister war, und Herbert Helmrich, der ihm in dieser Position folgte.29 Zu den Besonderheiten des ersten Landtages gehörte auch, dass sieben der 66 Abgeordneten ihre Ämter wegen der Mitarbeit bei der DDR-Staatssicherheit aufgeben mussten.30
Eine Gründungswahl? Weichenstellungen und Nachwirkungen der Landtagswahl 1990
Das Wahljahr 1990 bedeutete in MV und in den anderen neuen Bundesländern einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Einheit Deutschlands. Der Vereinigungsprozess erhielt hierdurch eine Legitimation, die alternativen Überlegungen der Bürgerbewegung verloren an Bedeutung, auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, bis dies den Betroffenen klar wurde. Allerdings handelte es sich 1990 in gewisser Hinsicht um eine Ausnahmesituation.
26 So Gomolka: Neujahrsansprache des Ministerpräsidenten von MV, in: SVZ, 31.12.1990. 27 Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13687242.html, aufgerufen am 9.11.2016.
28 Zit. nach Hans Jörg Hennecke: Die CDU in Mecklenburg und Vorpommern, in: Nikolaus Werz/Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Parteien und Politik in Mecklenburg-Vorpommern, München 2000, S. 38.
29 71 Abgeordnete, zwei Juristen, in: FAZ, 22.7.1995. 30 FAZ, 2.10.1991.
Für die weitere politische Entwicklung des Landes waren mindestens zwei Aspekte bedeutsam: Zum einen brachten sich die Parteien der Bürgerbewegung, also v.a. Bündnis 90 und die Grünen, durch den selbstverschuldeten Nichteinzug in den Landtag um die Chance eines guten Starts in den Parteienwettbewerb. Gerade für eine erst im Aufbau befindliche Partei wären die öffentliche Präsenz und nicht zuletzt die Ressourcen einer Landtagsfraktion enorm wichtig gewesen. Die Partei musste bis zum erstmaligen Einzug in den Landtag im Jahr 2006 eine erhebliche Durststrecke überstehen und konnte nur punktuell Akzente im politischen Wettbewerb setzen. Ganz nebenbei verhinderten die drei Gruppen im ersten Landtag ungewollt das Zustandekommen einer Großen Koalition aus CDU und SPD. Gerade vor dem Hintergrund der wichtigen Weichenstellungen, die von der ersten Landesregierung strukturell und personell vorgenommen werden mussten, ist dieser Fakt nicht zu überschätzen. Wichtige, langfristige Entscheidungen wären unter einer solchen Regierung womöglich anders ausgefallen.
In diesem Zusammenhang ist ein zweiter Aspekt zu erwähnen, der die Landtagswahl 1990 längerfristig bedeutsam machte. Die Begleiterscheinungen der Regierungsbildung aus CDU und FDP mit dem „abtrünnigen“ Abgeordneten Schulz war verantwortlich für die anfängliche sehr ausgeprägte, nicht zuletzt auch persönliche Entfremdung zwischen SPD und CDU und legte gleichzeitig zumindest einen Grundstein für die frühzeitige Annäherung von SPD und PDS. Die Sozialdemokraten begannen relativ schnell damit, die unangenehmen Seiten des Transformationsprozesses aufzugreifen, möglicherweise auch um dieses Thema nicht der PDS zu überlassen. Ein Interview mit Oppositionsführer Harald Ringstorff war mit dem Satz überschrieben: „Schwerin spürt eiserne Faust aus Bonn.“31 Bereits nach der zweiten Landtagswahl 1994 wollte der SPD-Landeschef das „Schweriner Modell“, d.h. eine Koalition zwischen SPD und PDS durchsetzen, die ihrerseits unter Helmut Holter einen pragmatischen Kurs eingeschlagen hatte. Er wurde hieran aber nicht zuletzt vom damaligen SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping gehindert. 1998 konnte er jedoch die erste rot-rote Koalition in Deutschland bilden. Während dies in der überregionalen Presse als ein Tabubruch galt, war die rot-rote Koalition für den internen Ausgleich im Bundesland nicht unwichtig und erschien eher als eine Normalisierung.32 Auch in deren Folge ist mittlerweile die politische Auseinandersetzung im Land zwischen den Parteien von Pragmatismus und gegenseitigem Respekt geprägt. In wichtigen Fragen haben es die Landespolitiker stets vermocht, zu einem politisch vernünftigen Ausgleich zu gelangen.
Die Landtagswahl brachte darüber hinaus einige Grundmuster des politischen Wettbewerbs hervor, die auch in den Folgejahren relevant blieben. Insbesondere zeichnete sich der Unterschied zwischen einem „schwarzen“ Landesteil in Vorpommern und einem „roten“ in Mecklenburg ab, er sollte sich bei den kommenden Landtagswahlen noch akzentuieren. Damit entwickelte sich im Land eine relativ stabile Wählerstruktur mit regionalen Wahltraditionen, die sich von den Vorstellungen von einer hohen Volatilität im Osten unterscheidet. Auch im Hinblick auf das Wahlverhalten in sozialen Gruppen, z.B. nach Konfession, markierte die 1990er Landtagswahl eine Grundstruktur, die in den darauffolgenden Wahlen zumeist bestätigt wurde.
Die Landtagswahl eröffnete schließlich eine gewisse Tradition, mit der nicht zu rechnen war. Das bevölkerungsarme Bundesland brachte einige Politiker mit bundespolitischer Bedeutung, u.a. Bundesminister, hervor (Günther Krause, Paul Krüger, Manuela Schwesig, Dietmar Bartsch). Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck nahmen bis 2017 sogar zwei Personen die höchsten Staatsämter der Bundesrepublik Deutschland ein, die beide in Mecklenburg-Vorpommern ihre (politische) Heimat haben.
31 SPD: „Schwerin spürt eiserne Faust aus Bonn“, in: MA, 24.4.1991, S. 3.
32 Nikolaus Werz: Vom Tabubruch zur Normalität. Die rot-rote Koalition Mecklenburg-Vorpommerns im deutschen Parteiensystem, in: Politik & Verantwortung. Festgabe für Wolfgang Jäger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ingeborg Villinger/Gisela Riescher/Jürgen Rüland, Freiburg 2000, S. 274-280.
Das Buch
Stefan Creuzberger/Fred Mrotzek/Mario Niemann (Hrsg.): Land im Umbruch – Mecklenburg-Vorpommern nach dem Ende der DDR (Schriftenreihe Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert, Bd. 4).
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Die Serie
30 Jahre Einheit, 30 Jahre MV
Wir gehen auf Zeitreise, blicken zurück auf das Jahr 1990, auf die deutsche Einheit und 30 Jahre Mecklenburg-Vorpommern.
- Die Deutsche Einheit: Fünf Buchtipps aus dem Onlineshop der LpB
- „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – Unsere Zukunft”, Teil 1: Anna Maria Mader berichtet über ihren Weg. Hier das Video
- Im Zeitzeugengespräch des Prora-Zentrums erinnert sich Martin Klähn – von der Friedlichen Revolution zur deutschen Einheit. Hier das Video
- MV – ein Land wird 30. Unsere Hintergrundseite – hier
- 1989/90 – die schwebende Zeit. Die Fotos zur Ausstellung – hier
- „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – Unsere Zukunft”, Teil 2: Thomas Winkler über seine Flucht aus der DDR. Hier das Video
- „Wir können stolz sein.“ Unser Interview mit Rainer Prachtl, erster Landtagspräsident in Mecklenburg-Vorpommern – hier
- „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – Unsere Zukunft”, Teil 3: Iran, Berlin, Bollewick. Der Weg von Neda Nouri-Fritsche. Hier das Video
- Unsere Karikaturen zur Einheit – hier
- Einheitspreis 2020: Das sind die Gewinner – hier
- 30 Jahre MV – unsere Tipps – hier
- Tag für Tag vor 30 Jahren. Der Rückblick: 1. bis 14. Oktober 1990 – hier
- Vom Fürstensitz zum Landtag – hier