„Wir können stolz sein“

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Rainer Prachtl im Interview. Foto: LpB

Rainer Prachtl war erster Landtagspräsident in Mecklenburg-Vorpommern. Er sagt: „Wir hatten 1989 etwas Großartiges errungen – unsere Freiheit. 1990 gab es eine neue Herausforderung: den Aufbau eines neuen Landes.“ Unser Interview zum Tag der deutschen Einheit.

Herr Prachtl, wissen Sie noch, was Sie am 3. Oktober 1990 gemacht haben?

Rainer Prachtl: Ich kann Ihnen sagen, wo ich am Vorabend der Deutschen Einheit war. Da habe ich eine Festrede vor dem Rathaus in Neubrandenburg gehalten.

Was haben Sie dort gesagt?

Dass ich mich auf das wiedervereinigte Deutschland freue. Ich bin immer Demokrat gewesen. War glücklich, dass wir das DDR-Regime überwunden hatten.

Wie war die Stimmung?

Ganz ehrlich? Weniger würdig als gedacht. Ein paar Hundert Leute waren da. Es gab auch vereinzelt Störer, Betrunkene. Der große Aufbruch hatte im Oktober 1990 schon an Fahrt verloren. Vielen war die Westmark wichtiger als die Einheit.

Woran hat das gelegen?

Die Wiedervereinigung so kurz nach der friedlichen Revolution: Manchen ging das zu schnell. Sie fühlten sich hilflos, nicht mitgenommen, nicht berücksichtigt.

Und was fühlten Sie?

Wir hatten 1989 etwas Großartiges errungen – unsere Freiheit. 1990 gab es eine neue Herausforderung: den Aufbau eines neuen Landes. Dabei wollte ich unbedingt helfen.

Erfahrungen hatten Sie da schon gesammelt…

Ich war 1990 stellvertretender Regierungsbevollmächtigter im Bezirk Neubrandenburg. Wir hatten den Rat des Bezirkes aufgelöst und mussten eine neue Verwaltung aufbauen. Das war schwerer als vermutet. Die alten Strukturen wirkten nach.

Was bedeutete das?

Altkader versuchten, neue Posten zu besetzen. Und auch die Abteilung Internationale Zusammenarbeit war immer noch da. Die Leute hatten keine Aufgabe mehr, genehmigten sich aber Westreisen.

Was haben Sie gegen die Beharrungskräfte unternommen?

Neue Leute eingestellt. Zum Beispiel 20 junge Akademiker, die ich im kirchlichen Umfeld gefunden hatte. Sie konnten uns u.a. im Umwelt-, Bau-, Forst- und Jagdbereich helfen.

Hilfe kam auch aus dem Westen.

Wofür ich sehr dankbar war. Gerade beim Aufbau von Polizei und Justiz. Man muss aber auch sagen, dass so manche Aufgabe genauso gut von Ostdeutschen hätte erledigt werden können.

Im Oktober 1990 wurden Sie in den Landtag gewählt. Was geschah dann?

Ich war gerade zu Besuch in einem Nonnenkloster in Niedersachsen, als ich einen überraschenden Anruf erhielt. Ob ich mir vorstellen könnte, Landtagspräsident zu werden, fragte ein CDU-Kollege. Ich musste kurz überlegen, antwortete dann aber: „Ja, ich mache das.“ Dienen in Verantwortung. So heißt meine Maxime.

30 Jahre ist das jetzt her. Mit Blick aufs Land: Was wurde erreicht?

Ich sehe tatsächlich blühende Landschaften. Schauen Sie auf die touristische Entwicklung. Wir haben Industrie angesiedelt, Gewerbe aufgebaut, das Handwerk gestärkt, aber auch eine Menge für die Umwelt getan. Seit 1990 stehen die wertvollsten Naturräume Mecklenburg-Vorpommerns unter Schutz. Und das ist nur ein Beispiel.

Was wurde verpasst oder falsch gemacht?

Da gab es schon ein paar Dinge. Die Vergrößerung des Landtages von 66 auf 71 Abgeordnete war für den Aufbau des Landes richtig, später hätte man die Anzahl aber wieder reduzieren können. Und noch ein Beispiel: der Petitionsausschuss und der Bürgerbeauftragte. Beides tolle Institutionen. Beide kümmern sich jedoch um die gleichen Aufgaben. Ich bin für klare Strukturen.

Und was überwiegt in Ihrer Bilanz?

Eindeutig das Positive. Wir können stolz sein auf das Erreichte.

Der 3. Oktober 1990, ein historisches Datum. Was bleibt Ihnen in Erinnerung?

Eine große Dankbarkeit, dass wir dieses Deutschland gemeinsam gestaltet haben. Es war ein langer Weg. Aber es hat sich gelohnt.

Zur Person

Rainer Prachtl machte eine Ausbildung zum Koch, bestand das Abitur 1968 an der Abendschule und studierte von 1971-1975 Wirtschaftswissenschaften in Leipzig. Von 1978 bis 1990 war er Ausbildungsleiter der Caritas Mecklenburg an der Hauswirtschaftsschule in Neustrelitz.

Prachtl (geb. 1950) trat im Dezember 1989 der CDU bei und wurde in den Rat der Stadt Neubrandenburg gewählt. Er war von Juni bis Oktober 1990 stellvertretender Regierungsbevollmächtigter für den Bezirk Neubrandenburg.

Von 1990 bis 2006 war Prachtl Mitglied des Landtages, vom 26. Oktober 1990 bis 26. Oktober 1998 amtierte er als Landtagspräsident.

Gemeinsam mit Freunden gründete er 1991 den Neubrandenburger Dreikönigsverein, der zu den wichtigsten Sozialinitiativen im Osten zählt.

Hintergrund

Rainer Prachtl – ein Zeitzeuge der Friedlichen Revolution 1989. Hier unser Video.

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Extra

30 Jahre Einheit, 30 Jahre MV

Wir gehen auf Zeitreise, blicken zurück auf das Jahr 1990, auf die deutsche Einheit und 30 Jahre Mecklenburg-Vorpommern.

Die Serie

  • Die Deutsche Einheit: Fünf Buchtipps aus dem Onlineshop der LpB
  • „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – Unsere Zukunft”, Teil 1: Anna Maria Mader berichtet über ihren Weg. Hier das Video
  • Im Zeitzeugengespräch des Prora-Zentrums erinnert sich Martin Klähn – von der Friedlichen Revolution zur deutschen Einheit. Hier das Video
  • MV – ein Land wird 30. Unsere Hintergrundseite – hier
  • 1989/90 – die schwebende Zeit. Die Fotos zur Ausstellung – hier
  • „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – Unsere Zukunft”, Teil 2: Thomas Winkler über seine Flucht aus der DDR. Hier das Video
  • Tag für Tag vor 30 Jahren. Unser Rückblick – hier

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