Mecklenburg-Vorpommern hat seit Februar einen neuen Beauftragten für das jüdische Leben und gegen Antisemitismus: Nikolaus Voss. Im Fokus seiner Arbeit: Dialog. Aufarbeitung. Und Bekämpfung von alltäglichem Antisemitismus. „Es kommt darauf an, dass antisemitische Sprüche nicht unwidersprochen bleiben!“
Herr Voss, viele jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in MV stammen aus der Ukraine und aus Russland. Wie wirkt sich der Krieg auf die jüdischen Gemeinden aus?
Nikolaus Voss: Etwa 1.200 Jüdinnen und Juden leben in Mecklenburg-Vorpommern. Die meisten sind im Zuge der Aufnahme von sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlingen Anfang der neunziger Jahre aus der damaligen Sowjetunion ins Land gekommen. Die meisten stammen aus der heutigen Ukraine und Russland. Die damalige Landesregierung hat entschieden, die Kontingentflüchtlinge vorrangig in Rostock und Schwerin anzusiedeln, um die Betreuung und die Bildung von Gemeinden zu erleichtern.
In den beiden jüdischen Gemeinden in Rostock und Schwerin besteht die Befürchtung, dass der Krieg gegen die Ukraine sich auch auf das Leben in der Gemeinde auswirkt. Offene Auseinandersetzungen zwischen Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Herkunft sind bisher aber ausgeblieben. Es besteht breiter Konsens in beiden Gemeinden, dass Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen werden muss. Darauf konzentriert sich die ehrenamtliche Arbeit.
Wie viele Flüchtlinge mit jüdischen Wurzeln sind bislang in MV angekommen?
Nikolaus Voss: Das kann ich nicht genau beantworten, zumal auch nicht gefragt wird, ob ein Flüchtling jüdische Wurzeln hat. In den beiden Gemeinden werden aber einige Dutzend Flüchtlinge mit jüdischer Abstammung betreut.
Wie werden diese Menschen in den jüdischen Gemeinden betreut?
Nikolaus Voss: Beide jüdische Gemeinden helfen bei der Beschaffung von Wohnraum, unterstützen bei Behördengängen und Arztbesuchen, organisieren erste Schritte zur Integration in der Kindertagesförderung, in Schule und Arbeitswelt. Der große Vorteil ist, dass für viele Mitglieder in den beiden jüdischen Gemeinden die ukrainische oder russische Sprache ihre Muttersprache ist. Deshalb ist ihre Unterstützung beim Übersetzen auf Behörden oder bei medizinischen Behandlungen generell sehr gefragt. Das ist eine riesige Hilfe bei der Integrationsarbeit.
Können Sie uns ein Beispiel geben, wo das Zusammenleben besonders gut funktioniert?
Nikolaus Voss: Stellen Sie sich vor, Sie müssten in ein fremdes Land fliehen. Und dann kommen Sie in eine Gemeinde, wo Ihre Muttersprache gesprochen wird. Das ist in einer solchen furchtbaren Situation doch das Allerwichtigste am Anfang.
Wie können Sie als Beauftragter helfen?
Nikolaus Voss: Ich stehe als Ansprechpartner für die Landesregierung jederzeit zur Verfügung und kann oft „auf dem kurzen Dienstweg“ helfen.
Wie waren die ersten Monate als Beauftragter für das jüdische Leben und gegen Antisemitismus in MV? Überschattet der Krieg alles?
Nikolaus Voss: 24 Tage nach Amtsantritt hat Russland die Ukraine überfallen. Dieser Krieg spielt in nahezu allen Gesprächen, die ich seitdem geführt habe, eine wichtige Rolle. Aber ich bin auch froh, dass dieser schreckliche Krieg nicht alles dominiert. Das wäre auch schlimm, weil Putin dann genau das erreicht hätte, was er wollte: dass der Krieg das ganze Leben in Geiselhaft nimmt. Die ersten Monate habe ich zuvorderst als eine wunderbare Entdeckungsreise durch die Vielfalt jüdischen Lebens empfunden. Ich hätte nicht gedacht, dass jeder Tag meiner Tätigkeit mit überraschenden Erfahrungen verbunden sein würde. Und diese Entdeckungsreise ist noch lange nicht zu Ende…
Sie sprechen von einem Dreiklang, wenn es um Ihre Aufgaben geht. Welche drei Schwerpunkte sind das?
Nikolaus Voss: Erstens möchte ich, dass dem jüdischen Leben von heute in seiner ganzen Vielfalt begegnet werden kann. Wenn man bedenkt, dass in Mecklenburg-Vorpommern nur 0,075 Prozent der Bevölkerung Jüdinnen und Juden sind, ist das eine große Herausforderung. Deshalb plädiere ich für möglichst niedrigschwellige Begegnungsarbeit, angefangen in der Schule. Das Programm des Zentralrats der Juden „Meet a Jew“ bietet die Möglichkeit, dass junge Jüdinnen und Juden in die Schulen kommen und live aus ihrem Leben erzählen.
Zweitens gilt es, den Antisemitismus zu bekämpfen. Ich habe hier einen klaren Fokus auf den alltäglichen Antisemitismus in der Arbeitswelt, im Schulalltag, in Freizeit und Sport. Es kommt darauf an, dass antisemitische Sprüche nicht unwidersprochen bleiben. Aber Widersprechen muss und kann man erlernen. Deshalb ist beispielsweise die Weiterbildungsreihe für Pädagogen und in der Sozialarbeit Tätige „Antisemitismus die Stirn bieten“ im Herbst in Rostock so wichtig.
Und drittens müssen wir uns der Frage stellen, wie in Zukunft über die unfassbaren Schrecken des Holocaust angesichts der Tatsache zu sprechen ist, dass die Zeitzeugen aussterben werden. Wichtig sind weiterhin gut vor- und nachbereitete Fahrten von Schulklassen in die Gedenkstätten. Es braucht aber auch innovative Formen wie das „Zeitzeugen-Portal“ oder spannende Ausstellungen wie die „Operation Finale“ über die Ergreifung des Massenmörders Adolf Eichmann.
Wir haben gerade 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert. Was waren die Höhepunkte in MV?
Nikolaus Voss: Das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland hat zahlreiche Begegnungsmöglichkeit geschaffen und ein breites Netzwerk von Kooperationspartnern geknüpft. Zur Durchführung hat die Landesregierung eine Kooperationsvereinbarung mit „Verein 321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ geschlossen, der eine deutschlandweite Plattform für Veranstaltungen angeboten hat. Höhepunkte waren die zahlreichen Konzerte, wie z.B. im Rahmen des Usedomer Musikfestivals oder die Konzertreihe „Verfemte Musik“, der Auftritt des Bundesjazzorchesters in Schwerin, die Festwoche in Pasewalk, Ausstellungen wie die über die jüdische Familie Levy aus Bad Sülze usw. Es fällt mir schwer, eine Veranstaltung besonders hervorzuheben.
Wo kann man sich denn – ganz ohne Jubiläum – über jüdisches Leben in MV informieren?
Nikolaus Voss: Natürlich zunächst einmal in den beiden jüdischen Gemeinden in Schwerin und Rostock selbst. Aber es ist auch lohnend, die alten Synagogen in Hagenow, in Röbel, in Krakow am See oder in Stavenhagen zu besuchen. Nicht zuletzt bietet das Max-Samuel-Haus in Rostock zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen an.
Weiterführende Informationen
Landesverband der jüdischen Gemeinden
Lesetipp
Jüdisches Leben per App erkunden
„Juden in Mecklenburg 1845–1945. Lebenswege und Schicksale“
Die Landeszentrale für politische Bildung (LpB) und das Institut für Zeitgeschichte München/Berlin (iFZ) haben gemeinsam ein Gedenkbuch zur Geschichte der Juden in Mecklenburg vorgelegt. Hier gibts weitere Informationen zum Buch und hier geht’s zur Bestellung.