Die Deportation der Juden

Vom / LpB, Publikationen, Zeitzeugen

Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Jacobsohn vor dem Haus Amtsbrink 15 in Stavenhagen (Foto: Marc Oliver Rieger, 2019)

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Stavenhagen 1750-1942. In ihrem Buch erinnert Dorothee Freudenberg an Familienschicksale vor allem im Nationalsozialismus. Hier ein Auszug aus: Die Deportation der Mecklenburger Juden.

Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 zeichnete sich als „Lösung der Judenfrage“ zunächst die Deportation der Juden nach Sibirien ab, wo sie Zwangsarbeit leisten sollten. Die vielen nicht arbeitsfähigen Juden galten als „schädliche Fresser“ und sollten vernichtet werden, und man entschied sich für ihre Ermordung durch Gas. Schließlich fiel im Januar 1942 die Entscheidung zur „Endlösung“, nämlich die sofortige Deportation aller Juden im Einflussbereich der Deutschen Wehrmacht in die neu geschaffenen Vernichtungslager im besetzten Polen. Aus Deutschland wurden etwa 165.000 Juden deportiert und ermordet.

Insgesamt wurden etwa 6 Millionen Juden Opfer der Shoah, die Hälfte von ihnen waren polnische Juden.

Im Februar 1942 lebten in Mecklenburg noch 232 Juden. Von ihnen waren 71 mit „arischen“ Deutschen verheiratet und wegen ihrer Mischehe vorläufig vor der Deportation geschützt. Zwischen 1942 und 1944 wurden in vier Deportationen insgesamt 146 Juden aus Mecklenburg ins Vernichtungslager Auschwitz und ins „Altenghetto“ Theresienstadt geschafft. Von ihnen waren bei Kriegsende nur noch sechs am Leben. Die meisten der in Mecklenburg geborenen Juden waren jedoch längst in andere Regionen gezogen, vor allem nach Berlin, und wurden von dort deportiert.

Die Deportation der Juden aus Stavenhagen

Am 6. Juli 1942 ordnete die Gestapo Schwerin für den 11. Juli die „Evakuierung“ von 91 namentlich aufgelisteten Mecklenburger Juden „nach dem Osten“ an. Angegeben war das pro Person erlaubte Gepäck einschließlich „Marschverpflegung für drei Tage“, außer 50 RM durften keine Wertsachen mitgenommen werden. Vor dem Abtransport wurden die Juden „nach Waffen […] Gift, Devisen, Schmuck usw.“ durchsucht und ihre Wohnungen versiegelt. Verantwortlich für die Aktion waren die örtlichen Polizeidienststellen.

Am Morgen des 10. Juli 1942 holten Polizisten Hans, Käte und Heinz Jacobsohn, Arthur, Emma, Max und Rosalie Lewin sowie Hugo Dosmar aus ihren Wohnungen. Die beiden Familien mussten unter Bewachung zu Fuß quer durch die ganze Stadt bis zum Bahnhof gehen. Dort bestiegen sie den fahrplanmäßigen Zug nach Ludwigslust, die Fahrkarten mussten sie noch selbst bezahlen. In Ludwigslust trafen sie auf 80 Mecklenburgische Leidensgenossen, mit denen sie über Nacht in einen Güterschuppen beim Bahnhof gesperrt wurden. Am 11. Juli fuhren sie ab 13.39 Uhr in einem Zug, in dem sich bereits 300 Juden aus Hamburg und Bielefeld befanden, ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Alle Deportierten, darunter auch die acht Stavenhagener Juden, wurden sofort in der Gaskammer ermordet.

Reaktionen von Nachbarn und der übrigen Stavenhagener Bevölkerung auf dieses Geschehen sind nicht überliefert. Anzunehmen ist, dass auch in Stavenhagen die Wohnungen der Deportierten auf Anweisung des Finanzamtes geräumt und ihr Hausrat öffentlich versteigert wurde.

Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Lewin/Dosmar vor dem Haus Malchiner Straße 23 in Stavenhagen (Foto: Klaus Salewski, 2019)

Ilse und Martin Samuels Deportation

Die NS-Regierung bezeichnete das Ghetto Theresienstadt zynisch als „Altersruhesitz für Juden“ und zwang die Betroffenen vor ihrer Deportation, Heimeinkaufsverträge zu unterschreiben und ihr gesamtes Vermögen an den Staat abzutreten.

Die Deportation der über 65-jährigen Mecklenburger Juden und auch ihrer jüngeren Ehepartner ins Ghetto Theresienstadt geschah am 11. November 1942. Es waren 49 Menschen, zu denen die in Stavenhagen geborene Ilse Samuel und ihr Ehemann Martin Samuel aus Teterow gehörten. Sie mussten sich in Neustrelitz versammeln und eine Nacht im Gefängnis Alt-Strelitz verbringen, bevor sie nach Berlin in das ehemalige jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße transportiert wurden. Am 19. und 20. November wurden 44 von ihnen ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Unter den elenden Lebensbedingungen starben dort 34 dieser Mecklenburger Juden, auch der 67-jährige Martin Samuel, dessen Tod am 3. Januar 1944 festgestellt wurde. Die erst 55-jährige Ilse Samuel und acht andere, im November 1942 von Mecklenburg nach Theresienstadt Deportierte, wurden im Mai 1944 weiter nach Auschwitz deportiert und am Ankunftstag ermordet.

Ilse Samuel, geb. Salomon, war am 5. März 1889 in Stavenhagen geboren worden, ihre Schwester Gertrud Salomon am 9. November 1878. Sie waren die Töchter des Stavenhagener Kaufmanns Emil Salomon, der in der Ivenacker Straße 1432 (heute Nr. 18) einen Handel mit Saatgut und Düngemitteln betrieb. Seine Ehefrau Louise starb 1889 bei Ilses Geburt, vier Jahre später musste Emil Salomon Konkurs anmelden und nahm sich daraufhin das Leben. Die beiden Schwestern kamen in Berlin in der Pension ihrer Tante Bertha Israel unter.

Gertrud half dort in der Wirtschaft mit, über ihren weiteren Lebensweg ist wenig bekannt. Sie blieb in Berlin, ledig und kinderlos. Am 17. März 1943 wurde Gertrud Salomon ins Ghetto Theresienstadt deportiert, ihr Tod wurde am 10. September 1943 registriert.

Ilse arbeitete ab 1909 als Kinderfräulein, wenige Jahre später heiratete sie den 1875 geborenen Eisenwarenhändler Martin Samuel und zog zu ihm nach Teterow. Dort wurden die beiden Töchter geboren: Liselotte am 30.10.1914 und Gerda am 20.10.1919. Martin Samuel war ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde zu Teterow. Im Jahr 1929 regte er den Zusammenschluss der israelitischen Gemeinden Teterow und Stavenhagen an.

Wie die jüdischen Männer aus Stavenhagen wurde auch Martin Samuel am 10. November 1938 in Alt-Strelitz inhaftiert. Ilse und Martin Samuel, deren wirtschaftliche Situation in Folge des „Judenboykotts“ desolat geworden war, bemühten sich um die Emigration ihrer Töchter, sie selbst wähnten sich wegen des „Eisernen Kreuzes“, das Martin Samuel als Soldat des Ersten Weltkriegs verliehen worden war, zunächst noch in Sicherheit.

Für die junge Mutter Liselotte, die mit einem Herrn Blumenthal verheiratet war und ein Baby hatte, fand sich kein Ausweg. Sie wurde im Oktober 1942 von Berlin nach Riga deportiert und ermordet.

Ihre jüngere Schwester Gerda zog nach Frankfurt am Main und begann dort am jüdischen Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenschwester, um ihre Chancen auf ein Visum zu erhöhen. Dies gelang, und die 19-Jährige erreichte nach einer gefährlichen Flucht über Holland im August 1939, kurz vor Kriegsbeginn, Großbritannien. Ihr Visum beinhaltete die Zuweisung einer Stelle am Krankenhaus von Merthyr Tydfil in Südwales. Neben ihrer Arbeit in der Krankenpflege paukte sie Tag und Nacht für ihr Examen, das sie bestehen musste, um der Ausweisung zu entgehen. In Merthyr Tydfil traf sie ihren späteren Ehemann Martin Shenfield, und sie blieb mit ihm in Großbritannien. Gerdas Hoffnung, ihre Familienangehörigen in Sicherheit bringen zu können, war vergeblich.

Gerda Shenfield besuchte im Jahr 2009 erstmals wieder ihre Geburtsstadt Teterow und pflanzte am Ort der 1938 zerstörten und dann abgerissenen Synagoge eine Rose. Im Mai 2016 weihte sie im Beisein ihres Sohnes Martin und ihres Enkels Jonathan auf dem jüdischen Friedhof Teterow eine Tafel zum Gedenken an ihre Eltern Martin und Ilse Samuel und ihre Schwester Liselotte Blumenthal ein.

Gerda Shenfield starb 2018 im Alter von 98 Jahren in England.

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Das Buch

Dorothee Freudenberg: Geschichte der jüdischen Gemeinde Stavenhagen 1750-1942. Schwerin 2020. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und dem Verein Alte Synagoge Stavenhagen. Hier geht’s zur Bestellung

In der Reuterstadt Stavenhagen steht eine der wenigen erhaltenen Synagogen Mecklenburg-Vorpommerns. Der Verein Alte Synagoge Stavenhagen konnte die Ruine retten und in dem Gebäude eine lebendige Stätte der Begegnung und Kultur einrichten. Dieses Buch dient der Erinnerung an die jüdische Gemeinde Stavenhagens. Ihre Geschichte begann um 1750 mit den ersten „Schutzjuden“ und fand 1942 mit der Deportation und Ermordung der letzten Stavenhagener Juden ihr schreckliches Ende.

Über die Autorin
Dorothee Freudenberg aus Frankfurt am Main, 1952 geboren, ist promovierte Ärztin für Psychiatrie, hat familiäre Wurzeln in der jüdischen Gemeinde Stavenhagens und ist Gründungsmitglied des Vereins Alte Synagoge Stavenhagen e.V.

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