Jeder Name ein Schicksal

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Bundesweit erinnern Stolpersteine an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie werden jeweils vor dem letzten selbst gewählten Wohnort der Opfer in den Gehweg eingelassen – so, wie für Paul Eduard Junker in Schwerin. Foto: Wiebke Marcinkowski

Schwerin, Schlossstraße 17. Hier wohnte Paul Eduard Junker. Bis die Nazis kamen und sein Leben zerstörten. Seit kurzem erinnert eine Messingplatte vor seiner letzten Wohnung an sein Schicksal. Ein Schicksal, dem die Liebe zum Verhängnis wurde. 

Die Erinnerung liegt eingelassen im Bürgersteig. „Jg. 1882. Verhaftet 1938. Verurteilt §175. 21.1.1939 Gefängnis Dreibergen/Bützow. Tot 29.1.1939“, steht auf dem Messingquadrat. Von Hand eingeschlagene Buchstaben und Zahlen, die Opfern des Nazi-Regimes einen Namen geben. Vergessene oder unbekannte Schicksale sichtbar machen. Paul Junkers „Vergehen“: Er war homosexuell. Laut Reichsstrafgesetzbuch, Paragraf 175, eine Straftat. 

Sein Stolperstein ist einer von mehr als 500 Stolpersteinen in MV. Kleine Gedenktafeln im Boden, die an das Schicksal von Menschen erinnern, die zwischen 1933 und 1945 verhaftet, deportiert, ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden.

Geboren wird Paul Eduard Junker 1882 rund 800 Kilometer weit weg von Schwerin: in Metz. Die heute französische Stadt an der Mosel gehörte damals zum Deutschen Kaiserreich. Im Jugendalter zieht die Familie nach Schwerin. Nach Abschluss der Schule macht Paul Junker eine kaufmännische Ausbildung. Später geht er für drei Jahre nach Berlin. 1903 kehrt er zurück. Er findet Arbeit im Kaufhaus Honig, dem späteren Kaufhaus Kressmann. 1913 wird er hier Prokurist. Eines Tages verliebt er sich in Wilhelm Rehmann, einen Bäcker aus Wismar. Eine mehrjährige Beziehung beginnt. 

Im Sommer 1938 werden beide verhaftet. Ebenso wie 13 weitere Männer aus Schwerin, Wismar und Umgebung. Im Januar 1939 wird ihnen am Landgericht Schwerin zwei Tage lang der Prozess gemacht. Am 21. Januar, 13 Uhr, fällt das Urteil: Alle 15 Angeklagten müssen ins Gefängnis. Die Strafmaße liegen zwischen einem und sechs Jahren. Paul Eduard Junker erhält ein Jahr und sechs Monate, sein Freund Wilhelm sechs Jahre. Beide überleben die Haftzeit in Dreibergen/Bützow nicht: Paul Eduard Junker stirbt acht Tage nach dem Urteil, Wilhelm Rehmann im Frühjahr 1944. Offizielle Todesursache bei beiden: Herzschlag. 

Der Stolperstein für Paul Eduard Junker ist einer der Stolpersteine in Schwerin, die zuletzt verlegt wurden – und der erste in der Landeshauptstadt für ein homosexuelles Opfer des Nazi-Regimes. Gunter Demnig, Initiator der Stolperstein-Aktion, hat ihn – wie die meisten Steine – persönlich verlegt. Der Kölner Künstler kam dafür zum achten Mal nach Schwerin. Neben dem Stolperstein für Paul Eduard Junker verlegte er am 24. Mai auch drei Stolpersteine für Richard Brandt, Kallmann und Idessa Nadel, drei jüdische Opfer. Sowie eine Stolperschwelle, die vor dem ehemaligen Kinderheim Lewenberg an 290 Opfer des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms erinnert (wir berichteten)

Insgesamt wurden in Schwerin bislang mehr als 80 Stolpersteine verlegt, die ersten im Jahr 2006. Finanziert werden sie in der Regel aus Spenden von Bürgerinnen und Bürgern. „Auf dieses Geschenk der Einwohnerinnen und Einwohner an unsere Stadt ist Schwerin sehr stolz“, sagte Oberbürgermeister Rico Badenschier bei der Verlegung im Mai. „Unsere Stadt unterstützt seit Anbeginn die Arbeit der Stolperstein-Initiative um Sabine Klemm. Unser Stadtarchiv betreibt beispielsweise die Nachforschungen, die nötig sind, um die Einzelschicksale zu dokumentieren. Dass die Zahl der Euthanasie-Opfer in der Schweriner Kinder-Psychiatrie so groß war, dass es sogar einer Stolperschwelle bedarf, ist ein sehr düsteres Kapitel unserer Stadtgeschichte.“


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Hintergrund

Der Paragraf 175

… wurde 1871 im Deutschen Kaiserreich eingeführt und stellte Homosexualität zwischen Männern als „widernatürliche Unzucht“ unter Gefängnisstrafe. 1935 verschärfte das Nazi-Regime das Gesetz und verbot beispielsweise auch Küsse, einschlägige Blicke oder Umarmungen. Der Paragraf existierte auch in den Strafgesetzbüchern der Bundesrepublik und der DDR weiter. In der DDR wurde er 1968 aus dem Gesetz gestrichen. Dafür trat §151 in Kraft: „Ein Erwachsener, der mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.“ In der Bundesrepublik werden 1969 homosexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahren nicht mehr unter Strafe gestellt. 1973 wurde das Alter auf 18 Jahre abgesenkt. Erst 1994 wurde § 175 aus dem Strafgesetzbuch entfernt. 2002 wurde ein Gesetz verabschiedet, das betroffene Männer für Verurteilungen zur Zeit des Nationalsozialismus rehabilitiert, 2017 ein weiteres für Verurteilungen, die nach dem 8. Mai 1945 erfolgten. Es hob sowohl die in der Bundesrepublik als auch in der DDR gefällten Urteile auf. Betroffene habe Anspruch auf eine Entschädigung. Ansprüche können beim Bundesamt für Justiz geltend gemacht werden. Mehr Infos: www.antidiskriminierungsstelle.de

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