Stein um Stein

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Zehn mal zehn Zentimeter: Ein Stolperstein wird verlegt. Symbolfoto: Axel.Mauruszat, Wikipedia 

Waren (Müritz), Große Burgstraße 6. Hier liegt die Erinnerung an Konrad Lorenz. Zehn mal zehn Zentimeter. Eingelassen im Bürgersteig. Das Messingquadrat ist einer von mehr als 500 Stolpersteinen in MV. Kleine Gedenktafeln im Boden, die an das Schicksal von Menschen erinnern, die zwischen 1933 und 1945 verhaftet, deportiert, ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden. In Waren (Müritz) sind alle Steine zu einem Rundweg verbunden, ihre Geschichten als Stadtführer erschienen. 

Der Stolperstein für Konrad Lorenz ist einer der jüngsten, die in Waren (Müritz) verlegt wurden. Im Sommer. Zusammen mit jenen für Marie Dahnke, Friedrich Losehand, Johannes Schmidt und Gerd Zengel. Ihr gemeinsames Schicksal: Sie waren psychisch krank und wurden Opfer des sogenannten Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten. Unweit von ihnen wurden gleichzeitig auch Stolpersteine für Wilhelm Schütt und Friedrich Franz Wagenknecht verlegt. Beide Männer wurden Opfer der sogenannten Aktion „Arbeitsscheu Reich“, in der soziale Außenseiter als vermeintliche „Asoziale“ verhaftet und in Konzentrationslager deportiert wurden. Die Stadt Waren (Müritz) ist eine von mehr als 1800 Kommunen in Deutschland, die mit zusammen fast 90.000 Stolpersteinen Teil eines großen, dezentralen Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus sind. 

Aus einer Farbspur wurden Steine

Alle Steine stehen mit dem Künstler Gunter Demnig in Verbindung. Er hatte die Idee zu diesem Kunstdenkmal. Auslöser war eine Begegnung in Köln. 1990 zog er eine 16 Kilometer lange Farbspur durch die Stadt, um an die Deportationswege der Sinti und Roma zu erinnern. Als die Spur nach und nach verwitterte, ersetzte er sie durch Messingschriftzüge. Als er in der Kölner Südstadt zugange ist, spricht ihn eine ältere Frau an. Sie würdigte sein Projekt, bezweifelte aber, dass in ihrer Nachbarschaft Sinti und Roma gelebt hätten. Demnig zeigte ihr seine Unterlagen. Die Frau staunte nicht schlecht. 

Nur selten erinnern Hinweise, etwa an Hausfassaden, an die Tragödien, die sich während des Hitlerregimes in der Nachbarschaft abspielten. An ermordete Juden, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Euthanasieopfer, Sinti und Roma. Die Idee, weitere Spuren zu legen, ist geboren. Statt auf kilometerlange Linien setzt Gunter Demnig nun auf zehn mal zehn Zentimeter große Betonsteine mit einer Messingplatte. Darin eingehämmert: ein Name, ein Geburtsdatum, ein Schicksal. Eingelassen in den Boden vor jenen Häusern, in denen die Frauen, Männer und Kinder zuletzt wohnten. Inzwischen liegen die Stolpersteine auch weit über Deutschland hinaus. Unter anderem in Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Lettland, Norwegen, Spanien und Griechenland. Die Maße kommen nicht von Ungefähr: „Um den Stein lesen zu können, muss man sich vor den Opfern verbeugen“, sagt Gunter Demnig.

Eine Broschüre weist den Weg

In Waren (Müritz) werden die ersten Steine 2008 in den Boden eingelassen. Inzwischen sind es 27. Wer dem Rundweg folgt, startet am Neuen Markt, an der einstigen Eisenwarenhandlung von Arnold Leopold. Liest in den umliegenden Straßen Namen wie Gertrud Westphal. Franz Liemandt. Frieda Rosenrauch. Danach führt der Weg etwas hinaus, die Gerhart-Hauptmann-Allee entlang. Immer geradeaus. Zur Witzlebenstraße. Lloydstraße. Güstrower Straße. Papenbergstraße. Am Seeufer vorbei. Bis sich der Rundweg in der Kirchenstraße, am Stolperstein von Wilhelm Schütt, schließt. Welche Schicksale dahinter stehen, hat Jürgen Kniesz, bis März 2021 Leiter des Stadtgeschichtlichen Museums in Waren (Müritz), in Kooperation mit dem Warener Geschichtsverein in einem 71-seitigen Wegweiser zusammengefasst. „Auf diese Weise kann sich jeder selbstständig auf Spurensuche in der Stadt begeben und so die Geschichte laufend entdecken“, heißt es im Vorwort. Die Broschüre kann kostenfrei über das Stadtgeschichtliche Museum bezogen werden.

Ahrenshoop, Binz, Hagenow, Stralsund, Torgelow, Ueckermünde, Wismar – neben Waren (Müritz) erinnern Demnigs Steine auch in mehr als 30 anderen Orten an Opfer des Nationalsozialismus. Inzwischen sind es mehr als 500 Steine. Die meisten hat der Künstler persönlich verlegt. Die Initiative dafür geht ebenso wie die Recherche zu den Schicksalen oft auf Vereine, Schulen, stadtgeschichtliche Museen oder engagierte Bürger/innen zurück. 

Stein für Stein Opfern einen Namen zu geben, die Erinnerung an sie zurückzuholen, ist für Künstler Demnig inzwischen ein Lebenswerk, seine Triebfeder ein Zitat aus dem Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ 

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