„Noch heute kommen einst Inhaftierte zum ersten Mal und erzählen ihre Geschichte“

Vom / Landeskunde, LpB, Zeitzeugen

Der ehemalige Gefängniskomplex in Schwerin. Foto: Dokumentationszentrum

Der Gerichts- und Gefängniskomplex am Schweriner Demmlerplatz war seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bis zum Mauerfall 1989 ein Ort der Repression und Rechtsbeugung. An diese Zeit erinnert das Dokumentationszentrum. Unser Interview mit Leiterin Heike Müller zum 20-jährigen Bestehen.

20 Jahre Dokumentationszentrum. Was wurde Ihnen von der Eröffnung im Juni 2001 berichtet?

Heike Müller: Leider war ich am 6. Juni 2001 nicht dabei. Die Eröffnung fand im Foyer des Landgerichtes statt, später gab es noch einen Festakt im Schweriner Schloss. Mir wurde von damaligen Mitarbeitern der LpB berichtet, dass das Interesse der Öffentlichkeit am neuen Dokumentationszentrum enorm war und der Andrang an den Folgetagen kaum bewältigt werden konnte. Hinzu kam eine Spur Neugier der Schweriner, die zwar in der Regel wussten, dass die Staatssicherheit hier ein Untersuchungsgefängnis führte, aber in den seltensten Fällen eine Vorstellung von dem hatten, was hier passierte. Es sollen sich Schlangen von Menschen vom Obotritenring (Eingang) bis über den Demmlerplatz gebildet haben, um das Hafthaus und die ersten Ausstellungen sehen zu können.

Wer war bei der Eröffnung dabei?

Vor allem beteiligte Organisationen, Verbände, Landeseinrichtungen, die den Prozess der Entstehung des Schweriner Dokumentationszentrums begleiteten. Die Rednerliste war hochkarätig besetzt. Stellvertretend seien an diese Stelle genannt: Bundespräsident Johannes Rau, Ministerpräsident Harald Ringstorff, Dr. Hartwig Bernitt (Verband ehemaliger Rostocker Studenten) und natürlich die Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung, Regine Marquardt.

Wurde das Dokumentationszentrum auch danach angenommen?

Das Interesse am neueröffneten Dokumentationszentrum riss nicht ab. Nicht nur die Schweriner und Menschen aus der Region, sondern auch das touristische Publikum suchte den historischen Ort auf. Die Eröffnung hatte sich herumgesprochen und mit Beginn des neuen Schuljahres fragten immer mehr Schulklassen eine Führung im Dokumentationszentrum nach, um sich insbesondere mit Fragen der politischen Verfolgung in der DDR auseinanderzusetzen. Dem Ansturm war die Einrichtung kaum gewachsen, so dass die Landeszentrale gefordert war, Überlegungen anzustellen, wie dieser – unerwarteten – Nachfrage begegnet werden konnte.

Heike Müller. Foto: Christian Möller

Sie haben bald nach der Eröffnung im Dokumentationszentrum angefangen. Was war Ihre Aufgabe?

Bereits im Herbst 2001 wurde ich über das Schulamt angefragt, ob ich mir vorstellen könnte, im Dokumentationszentrum die Bildungsarbeit aufzubauen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch Lehrerin für Geschichte und Sport an einem Gymnasium. Den Haftort in Schwerin kannte ich bereits über Lehrerfortbildungen des Landesbeauftragten. Um der großen Nachfrage gerecht zu werden, mussten zunächst „nur“ Führungen konzipiert werden, die Schülerinnen und Schüler ansprechen, sich mit „Politischer Haft in der DDR“ auseinanderzusetzen. Die Entwicklung intensiverer Bildungsangebote, wie Studientage und Fortbildungen, erfolgte nach und nach in der Folgezeit. Auch standen die Themen zur NS-Justiz und zu den Sowjetischen Militärtribunalen anfangs nur am Rande der Agenda. Die Schwierigkeit war zunächst, dass die Dauerausstellungen erst sukzessive von 2003 bis 2005 entstanden sind und regionale Forschungsergebnisse nur bedingt als Quellenmaterial vorlagen.

Prägend war der Kontakt mit ehemaligen Häftlingen.

Gerade in den ersten Jahren seit der Eröffnung kamen sehr viele Menschen ins Haus, die einst hier aus politischen Gründen in U-Haft saßen. Mit ihnen zu reden, ihr Schicksal zu erfassen und sie ggf. für die Zeitzeugenarbeit zu gewinnen, gehörte ebenso zu meinen Aufgaben, wie sie über Einrichtungen zur möglichen Rehabilitierung oder psychologischen Betreuung zu informieren. Die Vielzahl der vielen kleinen anderen Aufgaben sei an dieser Stelle nicht erwähnt.

Wer kam vor 20 Jahren, wer kommt heute?

In den Anfangsjahren besuchten sehr viel mehr Einzelbesucher/innen, vor allem aus der Region, das Dokumentationszentrum. Schulklassen waren dabei und natürlich ehemals Inhaftierte. Das hat sich geändert. Immer mehr Besucher kommen im Rahmen von Studientagen und Seminaren und nutzen das umfängliche Bildungsangebot. Das sind nicht nur Schulklassen, sondern auch Studenten, Bundeswehrangehörige, andere Bildungsträger, Familienkreise und nicht zuletzt Lehrer/innen aus Frankreich, Skandinavien und Mittelosteuropa. Ab und zu besuchten uns Regierungsdelegationen aus verschiedenen Ländern, um sich über die Aufarbeitung insbesondere der DDR-Vergangenheit zu informieren und beraten zu lassen. Inzwischen sind wir auch im Internet auf verschiedenen Plattformen gut zu finden, was uns insbesondere ein touristisches Publikum aus aller Welt in die Gedenkstätte bringt.

Was hat Sie bei den Besuchern überrascht?

Erstaunlicherweise ist der Besuch von ehemaligen, vor allem MfS-Untersuchungshäftlingen, über die Jahre nie richtig abgerissen. Noch heute kommen einst Inhaftierte zum ersten Mal an ihren ehemaligen Haftort und erzählen uns ihre Geschichte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Wie viele Besucher waren insgesamt da?

Diese Frage kann ich nicht konkret beantworten. Wir erheben keinen Eintritt und auch die Bildungsangebote sind kostenfrei. Mal wurden Besucher/innen genau gezählt, mal nicht. Für die ersten Jahre des Ansturms waren die Besucherzahlen im zweistelligen Tausenderbereich. Mittlerweile haben sich die Besucherzahlen, die sich ja vor allem aus den Nutzern der Bildungsangebote ergeben, auf jährlich etwa 4.000 eingependelt.

Aus Ihrer Erfahrung: Was beeindruckt Besucher am meisten?

Vielleicht kann ich mit einem Eintrag von Besuchern auf Tripadvisor antworten; so oder so ähnlich äußern sich die meisten unser Besucher über das, was sie am meisten beeindruckt: „Wir (…) haben den Besuch des Dokumentationszentrums als sehr bereichernd, aber auch sehr emotional empfunden. Die im Originalzustand belassenen bzw. wiedergegebenen Haftbedingungen der politisch verfolgten Häftlinge, die Zellen sind entsprechend rekonstruiert bzw. eingerichtet, lassen den Besucher eine bedrückende Zeitreise erleben. Neben spezifischen Informationen zur Zeitgeschichte, politischem Umfeld usw. stehen im Mittelpunkt darüber hinaus umfangreiche, aktenbasierende Berichte über jeweilige, im zeitlichen Kontext zu sehende Einzelschicksale der Insassen. Dadurch werden dem Besucher die politischen Rahmenbedingungen der jeweils herrschenden Diktatur (Willkürherrschaft) sehr gut vermittelt. Die (…) Mitarbeiter stehen für zusätzliche Informationen gerne zur Verfügung. Sofern man bereit ist, sich diesen dunklen Kapiteln deutscher Geschichte zu stellen, ist ein Besuch absolut zu empfehlen.“ (Aus: Tripadvisor – Dokumentationszentrum Schwerin, Eintrag vom 17. Juni 2018)

Welche Einzelschicksale bleiben den Besuchern in Erinnerung?

Das hängt ganz oft davon ab, aus welchem Umfeld die Besucher kommen, wie sie sozialisiert wurden. Junge Leute fragen oft nach den genauen Zusammenhängen der Verfolgung von Schülern als „Werwölfe“ nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone. Weil sie sich das überhaupt nicht vorstellen können. Stellvertretend dafür steht das Schicksal von Arnulf Putzar. Er wurde im Alter von 15 Jahren in Malchow/Mecklenburg verhaftet und wenig später zu 10 Jahren Haft durch ein Sowjetisches Militärtribunal verurteilt.

Insbesondere Frauen erfasst das Schicksal von Ruth B., einer sehr jungen Frau, die 1938 aufgrund fadenscheiniger Gründe durch das Schweriner Erbgesundheitsgericht nach einem lang andauernden Sterilisationsverfahren unfruchtbar gemacht wurde. Durch das Schicksal von Ruth B. beschäftigen sich die Besucher folgend ausführlicher mit der Rolle der Erbgesundheitsgerichte und der prinzipiellen Ausgrenzung von Bürgern im Nationalsozialismus.

Aber es gibt in unserer Dauerausstellung so viele spannende und für die jeweilige Zeit bezeichnende Schicksale. Einfach selbst vorbeikommen und sich ein Bild machen.

20 Jahre. Eine lange Zeit. Was hat sich seit 2001 geändert?

Bedeutsam für die Besucher und die Bildungsarbeit war die Entstehung der dreiteiligen Dauerausstellung. Sie ermöglicht den Besuchern individuell und in der Bildungsarbeit gleichermaßen, sich mit verschiedenen Verfolgungsschicksalen zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Getrennt voneinander, aber unter einem Dach ist das für die Zeit der NS-Justiz, der sowjetischen Militärjustiz und der Verfolgung durch die Staatssicherheit in der DDR möglich. Die Jahre fliegen so dahin; schon wieder Zeit, über eine vollständige Erneuerung der Dauerausstellung nachzudenken.

Und am Gebäude?

Große, wenn auch nicht zwingend sichtbare Veränderungen am Gebäude begannen 2015 mit der Außensanierung. Sie diente der Sicherung, Instandsetzung und teilweiser Erneuerung der Fassade, der Fenster, des Daches, auch des historischen Glasdaches im Hafthaus sowie der Hofmauern und Nebengebäude. Über weite Strecken konnte dabei der laufende Baubetrieb bei Öffnung des Dokumentationszentrums erfolgen. Im Ergebnis der Sanierungsarbeiten entstand im Bereich der ehemaligen „Wäscherei“ ein neuer Seminarraum für die Bildungsarbeit. Auch kann seit der Sanierung der „erneuerte“ Innenhof wieder genutzt werden. Möglich wurden diese Arbeiten durch finanzielle Mittel des Landes M-V und aus dem Mauerfonds.

Wie hat sich Ihre Arbeit gewandelt?

Kurze Frage – kurze Antwort? Das ist kaum möglich. Da kann ich nur einige wenige Dinge herausgreifen. Als ich meine Arbeit aufnahm, lernte ich viele, ehemals am Demmlerplatz inhaftierte Menschen kennen. Einige von ihnen haben mich über etliche Jahre in der Bildungsarbeit unterstützt und Zeitzeugengespräche mit Besuchergruppen geführt. Einige von ihnen stehen dafür nicht mehr zur Verfügung; sie sind verstorben oder gesundheitlich angeschlagen. Das gilt schon lange für Opfer der NS-Justiz, nun aber auch für die Zeitzeugen aus der Zeit der SBZ und der frühen DDR-Jahre. Zu spät haben wir die Zeitzeugenschaft gesichert, es gilt dies jetzt schnellstmöglich nachzuholen, wo es möglich ist. Für die 70er und 80er Jahre der DDR stehen dafür zahlreiche Zeitzeugen bereit.

Wofür soll das Dokumentationszentrum in Zukunft stehen?

Als erfreulichen Wandel in meiner Arbeit erlebe ich die Verschiebung der Nutzung unserer Bildungsangebote zugunsten aller Inhalte unserer Dauerausstellung. Anfangs wurden von den Besuchern/Besuchergruppen fast ausschließlich Angebote zur politischen Verfolgung in der DDR nachgefragt. Das hat sich geändert; nicht zuletzt durch zahlreiche Fortbildungen und Veranstaltungen zu den NS-Justizverbrechen und den Menschenrechtsverletzungen durch die sowjetische Militärjustiz in Schwerin. Das bleibt auch in Zukunft bedeutsam; in diesem bedeutenden Bauwerk für Mecklenburg an die Kontinuitäten und Brüche deutscher (Justiz-) Geschichte im 20. Jahrhundert und die damit verbundenen Schicksale von Menschen zu erinnern.

Eins noch zum Schluss: Anders als noch in den 2000er Jahren haben Jugendliche heute selbst Eltern, die die DDR höchstens noch in ihrer Kindheit erlebt haben. Prägend wird zu Hause die lebensgeschichtliche Erinnerung der Großeltern an die DDR erzählt. Das am „Demmlerplatz“ Geschehene soll Teil der Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte, auch und gerade von Jugendlichen, mit diesem Ort bleiben.

Hintergrund

Am 6. Juni 2001 haben Bundespräsident Johannes Rau und Ministerpräsident Harald Ringstorff das Dokumentationszentrum am Schweriner Demmlerplatz eröffnet. Der Hintergrund – hier

Dokumentationszentrum des Landes
für die Opfer der Diktaturen in Deutschland

Obotritenring 106 • 19053 Schwerin

Telefon: 0385/745299-11

Mail: dokuzentrum-schwerin@lpb.mv-regierung.de

Webseite: www.dokumentationszentrum-schwerin.de

Kempowskis Haft in Schwerin

Walter Kempowski. Aus: Ein Kapitel für sich

Walter Kempowski. Den meisten ist er als Chronist deutscher Zeitgeschichte mit Werken wie „Tadellöser & Wolff“ oder den „Echolot“-Büchern über den Zweiten Weltkrieg bekannt. Weniger bekannt ist, wie schicksalhaft sein Leben und Wirken mit dem historischen Ort Demmlerplatz in Schwerin verbunden ist. Weiterlesen

Der Mut von Margarete Wegener

Margarete Reuter (später Wegener) in der U-Haft des MfS, 1953

Margarete Wegener, geb. Reuter. Ihre christliche Nächstenliebe wird in der DDR zur Straftat erklärt. Sie kommt 1953 ins Gefängnis. Ihr fester Glauben führt sie durch diese schwere Zeit. Über das Leben einer mutigen Frau.

Die Bibel von Franz Fisch

Die Bibel des Franz Fisch (1882–1967) aus Kühlungsborn. Foto: Dokuzentrum Schwerin

Wir stellen Menschen vor, berichten über ihre Verfolgungsgeschichte, zeigen Dokumente aus ihrem Leben. Zum Beispiel die Bibel von Franz Fisch, einem Zeugen Jehovas. Zu sehen im Dokumentationszentrum Schwerin. Weiterlesen

Facebook