„Wir sind am Leben geblieben”

Vom / Landeskunde, Zeitzeugen

Blumen zum Gedenken auf den Bahngleisen im KZ Auschwitz-Birkenau. Foto: Wikimedia

Heute ist Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Holocaust-Überlebenden Batsheva Dagan und Natan Grossmann waren in den vergangenen Jahren im Landtag zu Gast und haben über ihr Schicksal und ihre Erinnerungen berichtet. Genau wie Jens-Jürgen Ventzki, der herausfand, wer sein Vater wirklich war – ein Täter.

Batsheva Dagan

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Batsheva Dagan 2019 bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus
im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern

Wenn Batsheva Dagan in Schwerin ist, wohnt sie bei Claudia Richter. Die Wohnung der ehemaligen Landtagsmitarbeiterin liegt nur eine Minute zu Fuß entfernt vom Slüterufer, wo sie 1942/43 unter falschem Namen im Haus des Landgerichtsdirektors gearbeitet hatte. Bei Nazis. „Jeden Morgen musste ich Hitlers Bild abstauben“, sagte sie mal der SVZ. Sie hatte sich aus einem Ghetto hierher durchgeschlagen. Fünf Monate lang drohte sie aufzufliegen. Eines Tages stand die Gestapo tatsächlich vor der Tür.

Als Batsheva Dagan im Mai 1943 in Auschwitz ankam, war sie 17 Jahre alt. Ihre Eltern und eine Schwester waren da schon tot, ermordet in den Gaskammern von Treblinka. Die jüngste Schwester wurde im Ghetto in Radom erschossen. Ihre älteren Brüder und eine Schwester hatten nach Russland flüchten können, als die Nazis Polen besetzten, die Heimat der jüdischen Familie.

Im KZ wurde ihr alles genommen: Kleidung, Tasche, Uhr. Ihre Haare wurden geschoren. Fortan war sie Häftling 45554, unübersehbar eintätowiert auf dem linken Arm. Vor ihr lagen 20 lange Monate in einer Baracke mit 800 Gefangenen. „600 Tage, alle vollgeladen mit Angst.“ Sie pflückte Brennnesseln, bis die Hände bluteten, schleppte tonnenweise Kartoffeln und musste täglich Leichen wegtragen.

Als die Rote Armee Anfang 1945 näher rückte, begann die SS, das Vernichtungslager zu räumen. Batsheva Dagan wurde auf den Todesmarsch getrieben. Ins damalige Löslau, über Ravensbrück, bis zum Außenlager nach Malchow. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen. „Der Schnee hatte viele rote Flecken.“

Batsheva Dagan bei einem Besuch in Schwerin

Nach dem Krieg zog Batsheva Dagan nach Israel, heiratete, bekam zwei Söhne. Sie studierte Psychologie und schrieb Jahre später ihr erstes Buch: „Was geschah in der Shoah? Eine Geschichte für Kinder, die es wissen wollen.“ Und diese Kinder gibt es auch in Deutschland. „Sie begreifen viel mehr, als man ihnen zutraut. Und sie haben in ihrem Leben noch die Wahl – ob sie Gutes oder Böses mitmachen. Das möchte ich ihnen vermitteln.“

„Wir sind am Leben geblieben“, sagt Batsheva Dagan. Viele Jahre hat sie sich als Zeitzeugin an Jugendprojekten und Veranstaltungen des Landtages beteiligt. 2007 wurde sie für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

  • „Von Hier nach Dort im Strom der Zeit“ — in ihrem Buch greift Batsheva Dagan Episoden ihres Lebens auf. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt. Auszüge: hier
  • „Chika, die Hündin im Ghetto“. Der Kurzfilm nach dem Kinderbuch von Batsheva Dagan. Schulen in MV können den Film bei der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern bestellen – hier

Natan Grossmann

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Jahrzehntelang verdrängt Natan Grossmann das Schicksal seiner Familie. Im Dokumentarfilm „Linie 41“ – hier der Trailer – redet er zum ersten Mal über seine Geschichte. Mehr zum Film unter www.linie41-film.net

Herbst 1939. Zgierz, ein jüdisches Schtetl zehn Kilometer von Lodz entfernt. Hier leben die Grossmanns: Natan, sein älterer Bruder Ber, Mutter Bluma und Vater Avram.

Natan ist zwölf, als die Wehrmacht in Zgierz einmarschiert, alle Juden vertreibt und ins Ghetto nach Lodz steckt. Hier, im zweitgrößten nach Warschau, leben 1940 um die 160.000 Menschen. Über die Jahre waren es 200.000. Mitten in der Stadt. Eingepfercht auf vier Quadratkilometern. Wer dem Zaun aus Planken und Stacheldraht zu nahe kommt, wird erschossen. Lodz soll eine deutsche Stadt werden, heißt ab April 1940 Litzmannstadt. Und während auf der einen Seite des Zauns der Aufbau voranschreitet, sterben auf der anderen Seite täglich Kinder, Frauen, Männer. Vor Hunger, Kälte, Erschöpfung. Weil sie krank sind. Oder ins Vernichtungslager deportiert werden.

Im März 1942 verschwindet Ber. Erst sieben Jahrzehnte später, bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm, erhält Natan die Gewissheit, dass sein Bruder im Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof) vergast wurde. Einige Monate nach Bers Verschwinden muss sein Vater zu einem Verhör. Er kehrt nie zurück. Kurz darauf verhungert die Mutter.

Im August 1944 wird Natan Grossmann mit 65.000 Menschen nach Auschwitz deportiert. Die meisten von ihnen werden unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast. Natan hat Glück. Er hatte im Ghetto in einer Schmiede gearbeitet, ist kräftiger als viele andere und wird zum Arbeiten gebraucht. Für eine Fabrik in Braunschweig. So entkommt er Auschwitz.

Auf Auschwitz folgt das KZ-Außenlager Vechelde, von da der Todesmarsch nach Ludwigslust. Natan überlebt. Am 2. Mai 1945 wird das KZ Wöbbelin von den Amerikanern befreit. Da ist er siebzehneinhalb. Und der einzige seiner Familie, der den Krieg überlebt hat.

Jens-Jürgen Ventzki

Jens-Jürgen Ventzki hat über seine Familiengeschichte ein Buch geschrieben.

Es ist ein Frühlingstag im Jahr 1990, als Jens-Jürgen Ventzki „ein dumpfes Gefühl der Vorahnung“ durch das Jüdische Museum in Frankfurt am Main begleitet. Auf dem Rundgang erzählen Bilder und Texte, Briefe und Dokumente, Aussiedlungslisten und Tagebücher Geschichte. Die Geschichte des Ghettos in Łódź. Mittendrin: Das geschwungene „Ve“, das Jens-Jürgen Ventzki nur allzu gut aus Briefen seines Vaters kannte. Gekritzelt an den Rand eines Schreibens vom 8. Mai 1942. Darin bittet das Amt für Volkswohlfahrt, Textilien, „die im Zuge der Judenaktion“ im Ghetto Łódź/Litzmannstadt „frei werden“, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zu überlassen.

Der Vater, das war Werner Ventzki, zu jener Zeit Oberbürgermeister von Litzmannstadt (so hieß Łódź seit April 1940). Und damit auch einer der wichtigsten Verantwortlichen für das Ghetto, in dem zwischen 1939 und 1944 um die 200.000 Menschen lebten und täglich Kinder, Frauen, Männer starben.

Jens-Jürgen Ventzki ist 46, als sein dumpfes Gefühl im Jüdischen Museum der Gewissheit weicht. Der Gewissheit, dass sein Vater über all das Bescheid gewusst hatte. Und, vielmehr noch: eine Mitverantwortung dafür trug. Er habe immer gewusst, dass sein Vater Oberbürgermeister gewesen war. Als Kind habe dieser Titel aber nicht gefährlich geklungen. Und später habe die Familie nie darüber gesprochen. Lange habe er sich auch nicht getraut, genauer nachzufragen – und später Antworten erhalten, die im Widerspruch zu den vielen Unterlagen standen, die der Sohn inzwischen über das Ghetto und seinen Vater gelesen hat.

2001 reist Jens-Jürgen Ventzki nach Łódź. Da, wo er 1944 geboren wurde und seit dem nie wieder war. Er kommt wieder und wieder. Durchforstet Archive und Dokumente. Spricht mit Historikern. Trifft Holocaust-Überlebende. „Mein Vater ist für mich genauso ein Täter wie jemand, der geschossen hat“, bezieht er im Dokumentarfilm „Linie 41“ klar Stellung.

Seinen Vater, der nach dem Krieg unter anderem als Regierungsbeamter für Vertriebenenfragen zuständig war, nie als Nazi-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde und 2004 im Alter von 98 Jahren starb, konfrontiert Jens-Jürgen Ventzki mit seinen Recherchen nicht. Einmal habe er versucht, mit ihm über das Ghetto zu sprechen. Der Vater habe bestritten, jemals dort gewesen zu sein. Die Sorge um die angeschlagene Gesundheit des Vaters lässt die Lüge auf sich beruhen.

Ob er sich mit der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte reinwaschen wolle, wurde Jens-Jürgen Ventzki einmal gefragt. Seine Antwort: „Nein. Denn es geht ja nicht um mich. Es geht um eine Geschichte, die unsere Familie betrifft. Und damit ist es eine Frage des Gewissens und der Verantwortung.“

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