Ende der Vertuschungsmanöver

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Bild: Hendrik Lietmann

Die Autorin Sandra Pingel-Schliemann und der Fotograf Hendrik Lietmann haben sich auf Spurensuche durch MV begeben. Dabei entdeckten sie Orte, die auf besondere Weise die Geschichte der Friedlichen Revolution 1989 erzählen. Teil 5 unserer Serie: der Reaktorschacht im Kernkraftwerk Lubmin.

Im Dezember 1988 findet eine Eingabe von Arbeitern der A-Schicht der in Bau befindlichen Blöcke 5 bis 8 des Kernkraftwerkes „Bruno Leuschner“ in Lubmin bei Greifswald den Weg ins bundesdeutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel“. 40 Arbeiter, darunter SED-Parteimitglieder, bemängeln die marode Volkswirtschaft, die sich im Kernkraftwerk an zunehmenden Bauzeiten und Kostenexplosionen zeige. Sie artikulieren ihre Unzufriedenheit mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation auf vielen Ebenen und formulieren Kritikpunkte, die sich wenig später in der finalen Krise der DDR zeigen.

Bild: Hendrik Lietmann

Erich Honecker tobt nach der Veröffentlichung auf einer Sitzung des Zentralkomitees, da diese dem internationalen Ansehen der DDR schadete. Erich Mielke, Chef der politischen Geheimpolizei, bekommt den Zorn besonders deutlich zu spüren, weil seine Mitarbeiter vor Ort versagten. Die geheime Objektdienststelle des Staatssicherheitsdienstes hatte keine Ahnung von der Eingabe und konnte diese somit nicht verhindern.

Dabei muss man wissen: Das Kernkraftwerk ist ein Prestigeobjekt der Staatsführung mit 10.000 Beschäftigten und wird 1974 ans Netz genommen. Es soll mit acht Kernreaktoren zu einem der größten Europas ausgebaut werden und am Ende 22 Prozent des gesamten DDR-Strombedarfs decken.

In Wirklichkeit ist das Kernkraftwerk, das bis 1989 vier Reaktoren betreibt, eine Zeitbombe: 22 Kilometer von der Hansestadt Greifswald entfernt. Es rumort deshalb auch schon frühzeitig bei jenen Kraftwerksmitarbeitern, die für Sicherheitsfragen zuständig sind. Sie unterliegen der höchsten Schweigepflicht und dürfen bis zur Friedlichen Revolution nicht nach außen tragen, welche schweren Störfälle und mangelnden Anforderungen an den Strahlenschutz sie in ihrer Arbeit registrieren.

Bild: Hendrik Lietmann

1984 legt einer dieser Mitarbei.ter in Moskau das unverantwortbare Risiko dar, das vor allem die Blöcke 1 und 3 in sich tragen und fordert, das Kernkraftwerk stillzulegen. In Moskau und Ost-Berlin erheben die Verantwortlichen der Kernenergiewirtschaft die Abschaltung auch dann noch nicht ernsthaft zum Thema, als 1986 ein Reaktor des sowjetischen Kernkraftwerkes Tschernobyl explodiert. Sie pumpen noch einmal Millionen-Investitionen nach Lubmin, um die Sicherheitslöcher zu stopfen und versuchen durch Vertuschungsmanöver, Nachrichtensperren und die Einschüchterung von Betriebsangehörigen die Probleme zu deckeln.

Wenige Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR wird die Lage im Kernkraftwerk an vielen Stellen für die Werksleitung und das im Kernkraftwerk operierende Ministerium für Staatssicherheit immer unübersichtlicher, da sich vielfältiger Protest zeigt. So verbreiten Arbeiter die Kollektiveingabe der A-Schicht aus dem Jahr 1988 erneut. Sie fordern die Anerkennung der Kritikpunkte und die Rehabilitierung der Unterzeichner. Andere verteilen den Aufruf des Neuen Forums und werden zu Unterstützern der Bürgerbewegung. Werksarbeiter verfassen offene Briefe an die Adresse der SED und die betrieblichen Massenorganisationen, stellen dabei den SED-Führungsanspruch in Frage und fordern Personalverän.derungen und Reformen.

Bild: Hendrik Lietmann

Am Abend des 2. November beteiligen sich Hunderte Betriebsangehörige an einer Dialogveranstaltung. Danach erfasst eine Austrittswelle die SED-Betriebsorganisation.

Als 1989 ein Wissenschaftler aus der Sicherheitsabteilung die Störfälle der Vergangenheit im Fernsehen zur Sprache bringt, bricht jedoch ein offener Konflikt aus. Von der Mehrheit der Belegschaft wird er als „Netzbeschmutzer“ und „Störenfried“ beschimpft. Die Empörung ist der Unkenntnis über die tatsächliche Sicherheitslage im Kernkraftwerk geschuldet, aber auch mit der Angst verbunden, dass nun Lebensleistungen und Berufsbiographien auf dem Spiel stehen.

Tatsächlich haben die meisten Betriebsangehörigen 1990 ihre Arbeitsplätze verloren, als das Kernkraftwerk vom Netz ging, nur 900 sind für den Rückbau übernommen worden. Aber eine atomare Katastrophe war durch das schnelle Handeln unterschiedlicher politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte im Zuge der Friedlichen Revolution nicht mehr zu befürchten.

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Buchtipp

Spurensuche. Orte der Friedlichen Revolution in Mecklenburg-Vorpommern. Von Sandra Pingel-Schliemann und Hendrik Lietmann. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern.

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