Butter bei die Fische

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Foto: Hendrik Lietmann

Die Autorin Sandra Pingel-Schliemann und der Fotograf Hendrik Lietmann haben sich auf Spurensuche durch MV begeben. Dabei entdeckten sie Orte, die auf besondere Weise die Geschichte der Friedlichen Revolution 1989 erzählen. Teil 3 unserer Serie: Hiddensee.

Sie ist ein Kleinod in der DDR, Rückzugsgebiet für Aussteiger und prominente Künstler sowie Urlaubsparadies für jene DDR-Bürger, die das Glück hatten, dort einen Erholungsplatz zugewiesen zu bekommen: die Insel Hiddensee, westlich von Rügen, autofrei und nur mit Fährverkehr zu erreichen. Den Weg zum Meer säumen Sanddorn, Hagebutten, eine Heidelandschaft und Strandhafer. Das Hochland fällt zur Ostsee hin in einer Steilküste ab, am Dornbusch in Kloster erhebt sich eines der beliebtesten Fotomotive: der Leuchtturm.

Foto: Hendrik Lietmann

Zu DDR-Zeiten ist die Insel Grenzgebiet. Wer in Kloster bei klarem Wetter am Leuchtturm steht, kann die kleine dänische Insel Møn sehen. Grenzsoldaten gehen auf der Insel täglich Streife. Während in den Gründerjahren der DDR noch ein gewisser Elan und Stolz bei den Inselbewohnern herrscht, eine sozialistische Republik mit aufzubauen, in der die Arbeiterklasse den Ton angibt, stellen sich bald Vorbehalte gegenüber politisch-ideologischer Vereinnahmung ein. Die Probleme, mit denen die Hiddenseer tagtäglich konfrontiert werden, machen ihnen klar, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Sozialismus eine große Lücke klafft.

Die SED bekommt auf der Insel große Probleme, ihre Politik durchzusetzen. Es finden sich fast keine Kader für politische Schlüsselpositionen auf der Insel, die Zahl der SED-Mitglieder stagniert auf einem extrem niedrigen Niveau. Nach der Kommunalwahl im Mai 1989 gelingt es der SED nicht, die Arbeit des Gemeinderates aufzubauen, da diese von Inselbewohnern torpediert wird.

Foto: Hendrik Lietmann

Es kracht heftig schon vor diesem Herbst 1989 auf der Insel. Im Oktober gründet sich auf Hiddensee eine „Initiativgruppe“ um den damaligen Pastor, die Leiterin des Gerhart-Hauptmann-Hauses und den Geschäftsführer der Griebener Gaststätte Enddorn. Diese will mit den Bewohnern zusammen Reformen auf der Insel selbst in die Hand nehmen.

Als die Initiative am 31. Oktober in die Klosterkirche einlädt, kommen 400 Insulaner, ein Drittel der Bevölkerung. Die geballte Ladung an Inselproblemen kommt zur Sprache: von der ökologischen Misere über die illegalen Bauten von Eliten bis hin zu dem tief sitzenden Misstrauen gegenüber den Gemeindevertretern. Dies und vieles mehr fassen sie am Ende der dreistündigen Veranstaltung in einem Offenen Brief zusammen, der an den Rat des Kreises sowie den neuen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz adressiert wird.

Im November geben die Insulaner so richtig „Butter bei die Fische“. Während andernorts die alten SED-Kader noch auf ihren Posten kleben, wird auf Hiddensee nahezu allen Gemeindevertretern das Vertrauen entzogen, auch der Bürgermeister verliert sein Amt. Stattdessen kommen reformorientierte und glaubwürdige Personen zum Zuge, die nicht Mitglied der SED sind. Das Machtmonopol der Partei ist auf der Insel frühzeitig gebrochen.

Foto: Hendrik Lietmann

Schnell werden erste Entscheidungen gefällt, die die Inselbewohner unmittelbar betreffen. Es wird ein neues Konzept für die Seglerhäfen in Vitte und Neuendorf erstellt, Gebäude der NVA werden der Gemeinde unterstellt, der Tourismus besser organisiert und der Verkauf von Getränkedosen und Einwegflaschen wird verboten. Zudem werden noch 1989 eine Reihe neuer Gewerbeanträge positiv entschieden, die ausschließlich an Einheimische vergeben werden, um sie sozial abzusichern. Die meisten Geschäfte, die es heute auf der Insel gibt, sind das Ergebnis dieses frühen entschiedenen Handelns.

Dass der Sozialismus sich dem Ende neigt, hatten die Insulaner im Gespür. Sie versuchten, an vielen Stellen die Folgen abzufedern. Und das mit Erfolg. Im Vergleich zu anderen Orten hielt sich die Ar.beitslosigkeit auf Hiddensee im Zuge der Systemtransformation in Grenzen. Ein autofreies Stück Erde, ruhig, ursprünglich, ohne Shopping-Meilen und Partylocations, einfach liebenswert, das haben sich die heute 1.000 Insulaner bewahrt, und sie haben es geschafft, 50.000 Touristen pro Jahr auf die Insel zu locken.

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Spurensuche. Orte der Friedlichen Revolution in Mecklenburg-Vorpommern. Von Sandra Pingel-Schliemann und Hendrik Lietmann. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern.

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