Vom Mut, Schweigen zu brechen

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Die Autorin Sandra Pingel-Schliemann und der Fotograf Hendrik Lietmann haben sich auf Spurensuche durch MV begeben. Dabei entdeckten sie Orte, die auf besondere Weise die Geschichte der Friedlichen Revolution 1989 erzählen. Teil 4 unserer Serie: die Mahn- und Gedenkstätte Fünfeichen.

Mit der Friedlichen Revolution brechen viele von ihnen ihr Schweigen: die Überlebenden des Sowjetischen Speziallagers Nr. 9 bei Neubrandenburg. Die sowjetische Lagerleitung hatte sie bei ihrer Entlassung im Herbst 1948 gezwungen, über ihre Erlebnisse im Lager nie zu sprechen, ansonsten würden ihnen harte Strafen drohen. 41 Jahre mussten sie all die Grausamkeiten für sich behalten, die sie in Fünfeichen erlebten, mussten ihre Traumata gegenüber den Angehörigen unterdrücken. Viele nahmen sie mit ins Grab.

Bild: Hendrik Lietmann

Am 9. Juni 1945 kommen die ersten 379 Verhafteten in das vom sowjetischen Geheimdienst NKWD betriebene Speziallager. Die Zahl wächst schnell an. 15.396 Männer, Frauen und Jugendliche werden bis November 1948 in Fünfeichen ohne einen richterlichen Beschluss interniert. Die jüngsten Lagerinsassen sind acht 14-jährige Mädchen und Jungen. Den meisten wird vorgeworfen, Nationalsozialisten zu sein. Ein kleinerer Teil lehnte sich gegen die sowjetische Besatzungsmacht auf, verübte „antisowjetische Propaganda“ und „Sabotage“.

Es ist ein 72,25 Hektar großes Gelände aus zahllosen Holzbaracken, auf dem die Internierten durch Arbeit umerzogen werden sollen. Ein vierreihiger, jeweils drei Meter hoher Stacheldrahtzaun umzäunt das Gelände und isoliert die Häftlinge von der Außenwelt.

Kurz zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht das Lager als Kriegsgefangenenlager genutzt und hielt dort zwischen 1939 und 1945 über 120.000 Kriegsgefangene aus über 10 Nationen fest. 5.500 von ihnen starben unter unmenschlichen Bedingungen. Die Toten der Alliierten erhielten Einzelgräber, die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden kreuz und quer in Massengräber geworfen.

Bild: Hendrik Lietmann

Auch nach 1945 hält der Tod Einzug in dem Lager. Schon im Sommer 1945 werden die ersten Häftlinge des NKWD-Lagers in Einzelgräbern bestattet. Durch Hunger, Folter und Krankheit sterben immer mehr Menschen, so dass die sowjetische Lagerleitung anordnet, sie in Massengräbern zu verscharren: 10 Tote in ein Grab. Die Häftlinge, die sie beerdigen, versuchen auf dem Gang zu den Gräbern für jeden Toten jeweils eine Kerbe in die umliegenden Bäume zu ritzen, um die Zahl der Opfer für die Nachwelt zu dokumentieren. Spuren davon sind noch heute zu sehen.

4.900 Jugendliche, Frauen und Männer sterben am Ende im Speziallager in Fünfeichen. 1958 errichtet die Stadt Neubrandenburg eine Gedenkstätte für die verstorbenen Kriegsgefangenen auf dem ehemaligen Lagergelände: einen Glockenturm mit einer Figurengruppe, der der Schriftzug unterlegt wird: „Die Toten mahnen uns“. Die Gräber des Speziallagers werden hingegen unkenntlich gemacht. Diese Toten passen nicht in das Weltbild der SED, das politisch-moralisch bessere Deutschland zu sein.

Bild: Hendrik Lietmann

1956 übernimmt die Nationale Volksarmee das Gelände als militärischen Standort. Als sich Soldaten während einer Übung im Wald vergraben müssen, stoßen sie auf viele Menschenknochen. Das Areal wird für weitere Manöver gesperrt, Erklärungen bekommen sie nicht, bis 1989. Im Herbst 1989 finden ehemalige Internierte, ermutigt durch die Reformprozesse im Land, ihre Stimme wieder und berichten häufig erst im engsten Familienkreis, dann öffentlich über das, was in Fünfeichen nach 1945 geschah. Sie führen Museumsmitarbeiter der Stadt Neubrandenburg an den Ort der Massengräber. Im März 1990 beginnen die Grabungen, Recherchen und Dokumentationen. Die Toten verbleiben in den Gräbern. Viele Familien bekommen nun Gewissheit, wo ihre Angehörigen ums Leben gekommen und wo sie begraben sind.

Bild: Hendrik Lietmann

Am 25. Mai 1993 wird vor allem auf Initiative der 1990 gegründeten Arbeitsgemeinschaft „Fünfeichen“ eine Gedenkanlage eingeweiht, die sowohl an das Schicksal der Kriegsgefangenen als auch der Internierten des Speziallagers erinnert. Sie ist für Angehörige ein Ort der Abschiednahme und des Trauerns und hat in der Erinnerungskultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern einen festen Platz.

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Spurensuche. Orte der Friedlichen Revolution in Mecklenburg-Vorpommern. Von Sandra Pingel-Schliemann und Hendrik Lietmann. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern.

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