Der Fall von Adele Klüsener

Adele Klüsener als Verkäuferin in der Stoffabteilung des Kaufhauses Altentreptow 1956. Archiv: Silva Keitsch / Auszug aus: Nordkurier vom 12.6.2023.

Der Fall von Adele Klüsener zeigt, dass die Staatsorgane der DDR Anfang der 1950er-Jahre hart gegen jegliche Art von Kritik vorgegangen sind. Sie wurde wegen „Boykotthetze“ von der Polizei in die Mangel genommen. Teil 2 unserer Serie zum 17. Juni 1953.

Text: Frank Wilhelm

Adele Klüsener war vertrautmit Heinz U., dem Sportinstrukteur aus Neubrandenburg. Beide kannten sich aus Treffen, bei denen auch seine Ehefrau dabei war. Weil der 28-Jährige bei einer Dienstreise nach Altentreptow Ende September 1952 den letzten Zug in die Viertorestadt verpasst hatte, wartete er auf die neun Jahre ältere, attraktive Adele Klüsener, die von der Arbeit im Konsum in Neubrandenburg zurückkehren würde. „Auf dem Bahnhof habe ich ihr die Augen zugehalten“, gab er später im Prozess gegen Adele Klüsener an.

Untergehakt unterm Regenschirm gingen sie zu ihrer Wohnung, wo sie ihm Abendbrot zubereitete: Margarine, Teewurst und Tee. Doch er protestierte: Er habe noch nie Margarine gegessen und würde sie auch nicht an diesem Abend essen. „Darüber war ich empört, und wir kamen in eine politische Diskussion“, sagte Klüsener später vor Gericht aus. Eine Diskussion, in der sie sich zu kritischen Bemerkungen über den Alltag hinreißen ließ. Man müsse froh sein, Margarine zu bekommen, die es in der HO (Handelsorganisation) oft nicht gebe. Die Länder des Westens würden die DDR nicht unterstützen. Die Lieferungen von Artikeln aus der Sowjetunion reichten nicht aus, anders, als es in der Presse stehen würde. Von der propagierten „Gleichberechtigung“ der Frau in der DDR halte sie nicht viel, Frauen seien schon vom Körperbau her nicht in der Lage, als Maurer zu arbeiten oder auf dem Bahnhof Kohlen zu schleppen. Die Männer scheuten die Hausarbeit, würden sich zum Feierabend allein „ihrer politischen Arbeit“ widmen.

Einmal in Rage nahm sie sich auch die Funktionäre vor. „Wie ich dies alles hasse, diese Herren, früher waren sie gar nichts und heute spucken sie im großen Bogen. Sitzen hinter ihrem Schreibtisch und poussieren mit ihren Sekretärinnen.“

Adele Klüsener war davon ausgegangen, dass es sich um ein privates Gespräch zwischen guten Bekannten handelt. Doch sie irrte sich. Heinz U. schwärzte sie bei der Volkspolizei an. Am 11. Oktober 1952 erließ das Amtsgericht Demmin Haftbefehl gegen Adele Klüsener. Sie wurde beschuldigt „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisatoren betrieben zu haben, indem sie sich in besonders gehässiger Weise gegenüber verschiedenen Einrichtungen in der DDR äußerte“.

Die Dokumente über den Fall hat Silva Keitsch aus Altentreptow zusammengetragen. Für ihre Mutter, die frühere Bürgermeisterin Sybille Kempf, war Adele Klüsener wie eine zweite Mama. „Das Schicksal von Adele bewegt mich bis heute“, sagt Silva Keitsch. Die Akten, gelagert im Stasi-Unterlagen-Archiv, zeigen, wie hart die Strafverfolgungsbehörden Anfang der 50er-Jahre gegen abweichende politische Meinungen vorgingen.

Klüsener wurde 1914 in Altentreptow geboren. Ihre Mutter ging 1921 allein in die USA; offensichtlich auch, weil ihr ihre Eltern die uneheliche Tochter vorwarfen. Klüsener wuchs bei den Großeltern auf, lernte Verkäuferin und arbeitete 1944/45 bei den Neubrandenburger Rinker-Werken, einem Rüstungsbetrieb. Nach dem Krieg war sie bei der HO und im Konsum als Verkäuferin beschäftigt. Ihre Mutter schickte ihr regelmäßig Briefe, Pakete und ab und an ein paar Dollar aus den USA. Das wurde ihr bei den Vernehmungen auch vorgeworfen. So fand die Polizei Briefe der Mutter, in denen sie sich positiv über Adolf Hitler äußerte. Zudem wurden in der Wohnung 18 Dollar sichergestellt.

Im Schlussbericht der Abteilung K (Kriminalpolizei) des Volkspolizeikreisamtes Altentreptow hieß es, dass sich Adele Klüsener „nie etwas zu Schulden kommen ließ“. Aber, so notierte der orthografisch unsichere Polizist: „Unserer Gesellschaftsordnung stand sie jedoch schon immer indiferent [sic!] gegenüber.“

Aus den wenigen Verdächtigungen bastelte der Kriminalist schwerwiegende Vorwürfe: „Wenn man die Tat des Beschuldigten betrachtet, so muss man zu dem Entschluss kommen, dass die Beschuldigte ein bewuster [sic!] Klassengegner unserer heutigen Geselschaftsordnung [sic!] ist.“ Sie sei voll und ganz für ihre Handlungsweise verantwortlich. „Demzufolge wäre es angebracht, hier keine Milde walten zu lassen, sondern das die Härte des Gesetztes [sic!] seine Anwendung findet.“

Der Neubrandenburger Staatsanwalt Schmidt rückt in seiner Anklageschrift vom 14. November 1952 Klüseners „Vergehen“ in den großen politischen Rahmen: Sie werde angeklagt „unsere volksdemokratische Ordnung und den Frieden des deutschen Volkes und der Welt gefährdet zu haben, indem sie Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Völkerhetze betrieb und durch Verbreitung von tendenziösen Gerüchten den Frieden des deutschen Volkes und der Welt bedrohte“. Im Namen der „friedlichen Menschen“ in der DDR forderte Schmidt, dass die „Beschuldigte die volle Schärfe der Gesetze zu spüren bekommt“.

In der Verhandlung am 16. Dezember 1952 vor dem Bezirksgericht forderte der Staatsanwalt eine Haftstrafe von einem Jahr. Doch im Gerichtssaal drehte sich der Wind, möglicherweise, weil ein Detail des Abends zur Sprache kam, das die Glaubwürdigkeit des Zeugen Heinz U. angreifbar machte. Laut Klüsener habe der Bekannte geäußert, später gerne noch einmal bei ihr zu übernachten, sie habe ja schließlich ein „sehr breites Bett“.

Das Gericht verurteilte sie zu einer Strafe von neun Monaten. Zugleich legte der Richter in einem noch am gleichen Tag dokumentierten Beschluss fest, den Haftbefehl auszusetzen. Das war ein Freispruch zweiter Klasse. Denn die Verbüßung der Reststrafe hing wie ein Damoklesschwert über ihr. Erst am 25. August 1954 beschloss das Bezirksgericht Neubrandenburg angesichts ihrer positiven Entwicklung, ihr für den „Rest der noch zu verbüßenden Freiheitsstrafe bedingte Strafaussetzung mit einer Bewährungsfrist von 2 Jahren“ zuzubilligen. Allerdings durfte Klüsener Altentreptow nicht verlassen. Sie arbeitete als Verkäuferin im HO-Kaufhaus, als ihr der Chef eine Weiterbildung in Leipzig anbot. Er würde das mit der Aufhebung der Wohnortbindung regeln, versprach er.

Sybille Kempf, damals noch ein kleines Mädchen, brachte Adele Klüsener zum Bahnhof. „Meine Mutter erzählte oft, dass ihr Adele am Bahnhof 50 Mark geschenkt habe. Damals viel Geld.“ Klüsener stieg in Westberlin aus, zog später nach Hamburg, um genügend Geld zu verdienen, damit sie endlich ihrer Mutter in die USA folgen könne. Am 26. Mai 1969 wurde sie Bürgerin der USA, wie das „Certificate of Naturalization“, die erhalten gebliebene Einbürgerungsurkunde für den Süddistrikt von New York ausweist.

Mit der Wende wurde der Kontakt aufgefrischt. Sybille Kempf flog im September 1990 zu der guten Freundin. „Sie reiste als DDR-Bürgerin hin und kam als Bürgerin der Bundesrepublik nach dem 3. Oktober wieder zurück.“ Sybille Kempf initiierte auch die offizielle Rehabilitierung.

Da Adele Klüseners Mutter mittlerweile gestorben war, fühlte sie sich offensichtlich recht einsam in den USA. 1996 kehrte sie mit 82 Jahren zurück in ihre Heimatstadt und lebte im Haus von Sybille Kempf. 2002 starb Adele Klüsener und fand ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt.

Hintergrund

Viele politische Urteile in den 1950er-Jahren wurden mit dem Vorwurf der „Boykotthetze“ sowie dem Verstoß gegen die Kontrollratsdirektive 38 begründet. Im Artikel 6 der DDR-Verfassung von 1949 hieß es: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militärische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.“

Der Alliierte Kontrollrat wurde von den Besatzungsmächten als oberste Besatzungsbehörde für Deutschland eingesetzt. Die Kontrollratsdirektive 38 betraf „die Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen“.

Bei den politischen Urteilen in der DDR wurden oft die „Sühnemaßnahmen“ unter Artikel IX verhängt. Diese beinhalteten den Verlust des Wahlrechts und das Verbot der politischen Betätigung. Mindestens fünf Jahre nach der Freilassung war es untersagt, in einem freien Beruf oder selbstständig in einem gewerblichen Betrieb tätig zu sein, sowie als Lehrer, Prediger, Redakteur, Schriftsteller oder Rundfunk-Kommentator zu arbeiten. Zudem gab es Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen.

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Dieser Text ist zuerst im Nordkurier erschienen – im Themenschwerpunkt zum 17. Juni 1953. Unterstützt von der Landeszentrale für politische Bildung MV. Kostenlose Bestellung der Sonderseiten – Einzelausgaben, Klassensätze – per Mail an: poststelle@lpb.mv-regierung.de

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