Auch im Norden entlud sich Wut

Foto: Archiv Nordkurier

Das Zentrum des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 lag in Ostberlin. Doch von dort aus verbreiteten sich die Nachrichten über die Streiks wie ein Lauffeuer; auch bis in die Bezirke Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. Viele Beispiele zeigen, mit welcher Härte die Stasi und die Justiz zurückschlugen.

Text: Frank Wilhelm

Am 17. Juni 1953 wollte auch die Näherin Lisa W. (35) aus Perleberg etwas tun. Sie arbeitete im VEB Bekleidungswerk „Fortschritt“ und engagierte sich als Vorsitzende der BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung). Aber Lisa W. war unzufrieden. Am Ende des Monats hatte die verheiratete Frau mit zwei Söhnen (13 und 15 Jahre) nur 180 Mark in ihrer Lohntüte. Wenige Wochen zuvor war den Näherinnen mit der Herabstufung der Ortsklasse das ohnehin schmale Gehalt noch einmal reduziert worden.

Am Morgen des 17. Juni ging Lisa W. vor ihrer Schicht für einige Besorgungen in die Stadt. Kein einfaches Unterfangen: Das Stück Butter kostete bei der teuren HO (Handelsorganisation) 24 Mark, das Kilo Zucker 12 Mark. Das Angebot auf Lebensmittelmarken war eher beschränkt. In der Konsum-Fleischerei hörte Lisa W. von den Streiks mit Tausenden Menschen in Berlin. Im Betrieb erzählte sie ihren Kolleginnen davon: „Wir müssten in unserem Betrieb auch für höhere Löhne streiken, dann würde auch unsere Norm heruntergesetzt werden“, wurden ihre Worte später in der Anklageschrift wiedergegeben.

Wenig später hörte Lisa W. mit ihren Kolleginnen eine Rede des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl im Radio. Lisa W. spottete, das sei doch eine alte Rede, man könne das Radio auch abschalten. Die Frauen hörten lieber den Rias – der Rundfunk im amerikanischen Sektor berichtete ausführlich über die Streiks in der DDR. Der Werkleiter schaltete das Radio ab. Zwei Tage später wurde Lisa W. festgenommen.

Ein Protokoll zeigt, dass die vierköpfige Familie von der Hand in den Mund gelebt haben dürfte. Das Sparkonto wies ein Guthaben von 14 Mark auf.

Auch über den Kreis Prenzlau wurde der Ausnahmezustand verhängt. Damit waren beispielsweise Versammlungen verboten. Archiv: Jürgen Theil

Das Beispiel der Näherin Lisa W. zeigt exemplarisch, warum die Menschen streikten oder offen ihre Meinung sagten: Niedrige Löhne und staatlich verordnete Normerhöhungen sorgten dafür, dass es den meisten Menschen acht Jahre nach dem Krieg immer noch schlecht ging, während in der Bundesrepublik das beginnende Wirtschaftswunder für einen gewissen Wohlstand sorgte. Hinzu kam, dass das Versprechen des Sozialismus‘, das Marx und Engels formuliert hatten, nicht eingehalten wurde. Im Kommunistischen Manifest hatten sie 1848 erklärt, dass die sozialistische Gesellschaft „eine Assoziation“ sei, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Doch viele Freiheiten wurden schon in der frühen DDR beschnitten.

Herrschte in den ersten Nachkriegsjahren noch eine gewisse Aufbruchseuphorie gerade in der jungen Generation, die unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ ein neues demokratisches Deutschland aufbauen wollte, zeigte sich spätestens mit der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, wohin die Reise gehen würde. Die Sowjetunion galt als Vorbild für den Aufbau des Sozialismus‘. Das Volkseigentum sollte die Wirtschaft dominieren. Handwerker und Unternehmer wurden enteignet, Bauern in Genossenschaften gedrängt. Ein extremer Ausdruck dieser unternehmerfeindlichen Politik zeigte sich in der Aktion „Rose“, durch die Hunderte Hoteliers an der Ostseeküste enteignet wurden. Mit der Gründung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) als Vorläufer der NVA wurde die Militarisierung in der DDR vorangetrieben, die freilich auch im Kontext der Konfrontation der beiden Blöcke in Europa zu sehen ist.

Mit der Abschaffung der Länder und der Gründung der 15 Bezirke 1952 kappte die SED die letzten Reste des Föderalismus zugunsten einer Zentralmacht, die in der Einheit von Politbüro und Ministerrat funktionierte und sich als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete. Real handelte es sich allerdings um eine Diktatur der SED.

Zugleich wurde der Kampf gegen Andersdenkende und Oppositionelle wie Christen sowie viele Künstler forciert. Mit der Anfang der 1950er-Jahre angezettelten Formalismusdebatte wurden moderne Künstler vielfach als „antidemokratisch“ an den Pranger gestellt. Gegen politische Gegner gingen die SED und das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das als Geheimpolizei agierte, immer rigoroser vor. In den drei Nordbezirken zeigte sich das zum Beispiel an oft drakonischen Strafen gegen Einzelbauern, die ihr Abgabesoll nicht erfüllten. Oft wurde über diese Fälle dann auch noch mit Namen der Betroffenen in den SED-Bezirkszeitungen berichtet. In nur einem Jahr verdoppelte sich die Zahl der Häftlinge auf mehr als 65 000 Mitte 1953. Allein 1953 kehrten mehr als 270 000 Menschen der Republik den Rücken.

In dieser angespannten Lage beschloss der DDR-Ministerrat am 28. Mai 1953, die Normen in allen Betrieben um zehn Prozent zu erhöhen. Dies bedeutete für die Arbeiter: Mehr Arbeit bei gleichem Lohn. Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Präsident Wilhelm Pieck empfing im Oktober 1953 Bauarbeiter aus der Stalinallee. Bemerkenswert ist der Hinweis auf der Rückseite des Fotos: „Achtung REDAKTION: Die Präsidialkanzlei legt großen Wert auf die Veröffentlichung dieser Bilder.“ Foto: Heilig/Archiv Nordkurier

Die Vorgeschichte des 17. Juni zeigt, dass es sich nicht um einen „faschistischen Putschversuch“ handelte, wie die DDR-Medien sofort propagierten. Insofern ist die frühe Erkenntnis durch die Stasi in Rostock bemerkenswert. Am 29. Juni 1953 heißt es in einem Bericht der Bezirksverwaltung: „Die Ursachen der entstandenen ernsten Situation in den entscheidenden Werften und Betrieben sind in erster Linie zu suchen in der Unzufriedenheit großer Teile der dort beschäftigten Arbeiter und Angestellten. Von dieser Unzufriedenheit waren … auch große Teile der Parteimitglieder erfasst. Diese Unzufriedenheit begründet sich hauptsächlich auf den administrativ durchgeführten Normerhöhungen ohne Aufklärung.“

Die Berichterstattung freier Medien wie dem Rias, die die Nachrichten von den Streiks in Ostberlin in der DDR verbreiteten, wurde durch die Ideologen in der DDR verfälscht. Aus Journalisten wurden schnell „ausländische Agenten“. Schon in den frühen Auswertungen von SED und Stasi zum Volksaufstand in der DDR ist immer wieder von einer „ruhigen Lage“ in den drei Nordbezirken die Rede, eine Bewertung, die sich interessanterweise bis heute gehalten hat. Natürlich entfalteten die Streiks in Berlin, Halle oder Leipzig quantitativ und qualitativ eine deutlich größere Wirkung. Aber die vielen Aktionen in den Bezirken Neubrandenburg, Rostock und Schwerin sollten für die Bewertung in Relation zur Bevölkerungsdichte und Industriestruktur gesetzt werden.

Insofern war beispielsweise der Streik Hunderter Arbeiter am 17. und 18. Juni auf der Baustelle des Flugplatzes der Sowjetarmee in Groß Dölln bei Templin eine herausragende Aktion und zugleich der bedeutendste Aufstand im Bezirk Neubrandenburg. Die Reaktionen der Justiz waren entsprechend: Unter anderem wurden drei Elektromonteure zu Zuchthausstrafen von jeweils vier Jahren verurteilt.

Die Näherin Lisa W. aus Perleberg blieb bis zu ihrer Verhandlung am 30. Juni knapp zwei Wochen in Untersuchungshaft. Die Anklageschrift ließ nichts Gutes ahnen. Die 35-Jährige sei durch ihre „verbrecherische Handlungsweise … zum Feind unseres Aufbaus und zum Handlanger der imperialistischen Kriegstreiber geworden“.

Es war möglicherweise das Interview mit Max Fechner im Neuen Deutschland, das Lisa W. rettete. Der Justizminister hatte einen maßvollen Umgang mit den wegen des 17. Juni Inhaftierten gefordert. Das Verfahren gegen Lisa W. wurde durch das Bezirksgericht Schwerin am Tag des Interviews, dem 30. Juni 1953, eingestellt. Allerdings hatte die Näherin die Kosten des Verfahrens zu tragen, die in der Regel mehrere Hundert Mark betrugen.

Themenschwerpunkt

Dieser Text ist zuerst im Nordkurier erschienen – im Themenschwerpunkt zum 17. Juni 1953. Unterstützt von der Landeszentrale für politische Bildung MV. Kostenlose Bestellung der Sonderseiten – Einzelausgaben, Klassensätze – per Mail an: poststelle@lpb.mv-regierung.de

Ausstellung

60 aus 40

Aus dem Flyer der DuG

„60 aus 40. Protest, Opposition und Verweigerung im ehemaligen Bezirk Rostock.“ So heißt die Ausstellung in der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock, die anlässlich des 70. Gedenkens an den Volksaufstand am 17. Juni eröffnet wird. Weiterlesen