Am 12. März 1945 ist Swinemünde bombardiert worden. An jedem Jahrestag erinnert der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, die auf der Gedenk- und Kriegsgräberstätte Golm ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. 2021 mit einer stillen Kranzniederlegung und einem Video (oben).
Hintergrund
„Die Kriegsgräber- und Gedenkstätte Golm und die Tragödie von Swinemünde.“ So heißt ein neues Buch der Landeszentrale für politische Bildung MV. Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen beleuchten darin die Geschehnisse des 12. März 1945 – und setzen den Angriff auf die Hafenstadt in den historischen Kontext.
Interview
17 Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen haben dieses Buch geschrieben: „Die Kriegsgräber- und Gedenkstätte Golm und die Tragödie von Swinemünde.“ Wir sprachen mit den Herausgebern über das Buchprojekt und dessen Bedeutung für die Gedenkstättenarbeit.
„Erinnern und Gedenken brauchen gesicherte historische Erkenntnisse als Grundlage“, sagt Bildungsministerin Bettina Martin. Welche Erkenntnisse liefert Ihr Buch?
Nils Köhler: Allen Autoren war es wichtig, die vielen Fragen der Besucher des Golm zu beantworten und zugleich fundierte historisch-politische Bildung abzusichern und damit die Arbeit der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) Golm zu unterstützen. Bildungsarbeit braucht ein Fundament von gesicherten Forschungserkenntnissen. Um den Bombenangriff auf Swinemünde und um die Grenzziehung auf Usedom 1945 und 1951 rankten sich sehr viele Geschichten und Mythen. Eine Erkenntnis ist die Zahl der Opfer des Bombenangriffs: Mindestens 4500, keinesfalls aber mehr als 6000 Menschen starben am 12. März 1945 in Swinemünde und in den darauffolgenden Tagen und Wochen an den Folgen der erlittenen Verwundungen.
Klaus Utpatel: Lange Zeit angenommene, deutlich höhere Zahlen sind heute nicht nur wissenschaftlich widerlegt, sondern wir zeigen in dem neuen Buch auch, warum wir diese ausschließen können – erst Jahrzehnte nach dem Krieg sind sie ausgeufert und konstruiert worden. Zugleich möchten wir betonen: Das schmälert nicht das Leid der Opfer und Überlebenden. Diesen Menschen gilt unser Mitgefühl, an ihr Schicksal wollen wir erinnern, deswegen schrieben wir dieses Buch.
17 Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen. Was bedeutet diese Bandbreite fürs Ergebnis?
Klaus Utpatel: Der Vorteil – besser die Notwendigkeit – einer zahlreichen Autorenschaft ist zweifach begründet: Zum einen ist die Weite der Einzelthemen sehr groß, von lokaler Geschichte bis hin zur Luftkriegsstrategie. Zum anderen ist es eine praktisch unlösbare Aufgabe, historische Erkenntnisse „neutral“ zu beleuchten. Daher kommen verschiedene Autoren zum selben Einzelthema zu Wort, Beispiele sind Luftangriff und Kriegsrecht, aber auch der „Austausch“ der Swinemünder Einwohner aus deutscher und polnischer Perspektive. Dieser interdisziplinäre und zugleich multiperspektivische Ansatz hilft den Lesern, die Problematik zu erfassen.
Wie ist es überhaupt zu diesem Projekt gekommen?
Nils Köhler: Ein Teil der Autorinnen und Autoren unseres Buches hatte bereits vor zehn Jahren gemeinsam einen ersten Sammelband mit Forschungsergebnissen zu den Hintergründen der Kriegsgräber auf dem Golm vorgelegt. Dieser Band war seit Jahren vergriffen. So entstand 2017 die Idee einer Neuauflage in der Schriftenreihe der Landeszentrale für politische Bildung zu Erinnerungsorten in Mecklenburg-Vorpommern. Sehr schnell wurde aber klar, dass viele neue Erkenntnisse zu berücksichtigen waren. Mit einer Aktualisierung allein war es nicht getan, ein Teil der Beiträge musste völlig neu geschrieben werden – so wurde es ein größeres Projekt als zunächst gedacht. Alle Mitwirkenden haben diese Arbeit übrigens ehrenamtlich in ihrer Freizeit geleistet.
Und wie lief die Zusammenarbeit?
Klaus Utpatel: Die Redakteure und viele Autoren kennen sich bereits seit langer Zeit durch verschiedene gemeinsam ausgeführte Projekte. Aufgabenverteilung und gegenseitige Hilfen erfolgten auch jetzt völlig reibungslos.
Was bedeutet das Buch für die Gedenkstättenarbeit?
Mariusz Siemiątkowski: Die pädagogische Arbeit der JBS Golm wird vor allem von der Seriosität des Buchinhalts profitieren, in dem die Forschung auf den neuesten Stand gebracht wurde. Ich merke aber auch, dass das Buch große Aufmerksamkeit bei einem breiten Publikum erregt. Das freut mich sehr, weil die Leser in den Beiträgen des Buches viel Neues über die Geschichte der Stadt und die dort lebenden Menschen erfahren können. Diese Lektüre wird neben der täglichen Gedenkstättenarbeit in Zukunft daran mitwirken, dass dieser Ort die angemessene Beachtung findet.
Wie erklären Sie Jugendlichen, was am 12. März 1945 geschehen ist?
Mariusz Siemiątkowski: Wir vermitteln die Geschichte vom 12. März 1945 auf partizipativer Basis. Das bedeutet, dass alle Jugendlichen ohne Ausnahme aktiv am Lernprozess teilnehmen. Originale Fotos, Zeitzeugenberichte, Videos usw. sind die Werkzeuge dieser Methode, die dafür sorgt, dass die von uns angebotenen Workshops für Gruppen verschiedenen Alters spannend, interessant und beeindruckend sind.
Zeitzeugen gibt es immer weniger. Konnten Sie für dieses Buchprojekt mit welchen sprechen?
Nils Köhler: Die Schilderungen der Zeitzeugen sind sehr wichtig bei der Darstellung dieses Themas. Wir sind sehr froh, dass schon in den 1990er Jahren eine Bürgerinitiative um das Zirchower Pastorenehepaar Ingeborg und Otto Simon damit begonnen hatte, Zeitzeugenberichte zu sammeln und zu publizieren. Klaus Utpatel und ich haben 2015 in dem vom Volksbund publizierten Band „Das Inferno von Swinemünde“ die Erinnerungen von 65 Überlebenden des Bombenangriffs zusammengetragen. Auch im neuen Buch flossen die Darstellungen der Zeitzeugen an vielen Stellen ein.
Was haben die Zeitzeugen berichtet?
Klaus Utpatel: Wir kennen mündliche Mitteilungen und Briefe von nahen Verwandten aus dem Jahr 1945 und danach. Die Berichte erzählen neben der angstvollen Zeit des Angriffs auch von den grauenvollen Anblicken nicht nur entlang der Straßen, sondern auch auf dem nahen Friedhof: Die Bomben hatten viele der Gräber geöffnet. Und wenige Grundstücke weiter wurde eine Apotheke getroffen, deren Haus – wegen der gelagerten Chemikalien – mit „höllischen“ Farben verbrannte. Als es später zu schriftlichen Zusammenstellungen kam, konnten in mehreren Fällen bei den ehemaligen Swinemündern Interviews vorgenommen werden. Dies führte zu wichtigen Ergänzungen und Details sowie Bestätigungen der Zuverlässigkeit.
Wer hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die Kriegsgräber gekümmert?
Klaus Utpatel: Über die Tätigkeit hinaus, die einzelne Personen aus den benachbarten Ortschaften – vor allem aus Kamminke – leisteten, war es die evangelische Kirche, die sich mit den Gräbern und der Gestaltung eines Gedenkortes befasste. Hier sind insbesondere die Superintendenten Paul Brutschke – vorher Swinemünde – und Dr. Herbert Achterberg zu nennen. Die Bemühungen gerieten dann zunehmend in Konflikt mit kirchenfeindlichen Vorgaben der DDR-Führung, wie es in dem Beitrag von Fabian Schwanzar ausgeführt wird.
Wie wurde in Polen der Opfer gedacht?
Mariusz Siemiątkowski: Seit Jahren bauen wir Verständnis zwischen beiden Ländern im Bereich der Gedenkkultur und Bildungsarbeit auf. In Polen gedenkt man an den Zweiten Weltkrieg aus der Opferperspektive. Das ist der Ist-Stand. Das kann man auch gut verstehen. Das Bauen des Dialogs ist ein goldenes Mittel. Dies schaffen wir bei jedem Treffen während der Gedenkstunden zum 12. März. Die polnischen Gäste kommen zur Kriegsgräberstätte Golm, auch am Volkstrauertag, um aller Toten des Krieges zu gedenken. Alle Veranstaltungen werden auch von professionellen Dolmetschern simultan übersetzt. Wir als Mitarbeiter des Volksbundes, aber auch andere Akteure vom deutschen Teil der Insel Usedom sind zu wichtigen Gedenktagen in Swinemünde anwesend. Beispielsweise ist der 1. September als Tag des Beginns des Zweiten Weltkrieges in Polen enorm wichtig und würdig kultiviert. Man fühlt immer seitens der polnischen Gastgeber in Swinemünde eine Art der Dankbarkeit und Hochachtung, dass Deutsche an der Veranstaltung teilgenommen haben. Zum Schluss gehen wir mit polnischen Kriegsveteranen gemeinsam zum Kaffee. Ich wünsche mir zukünftig, dass sich ein noch größeres Interesse an der Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen entwickelt. Das wirkt auf beiden Seiten der Grenze, und ich finde, das ist einer der wichtigen Wege zum grenzüberschreitenden Verständnis.
Wie wurde in der DDR der Opfer gedacht?
Klaus Utpatel: Da war eine gewaltige Kluft: Es gab staatliche Propaganda mit Friedensparolen (dabei war die Nennung des Ortsnamens „Swinemünde“ verboten), und demgegenüber blieb für die Empfindungen der Angehörigen der Opfer und für die Flüchtlinge kein Raum. Jährliche Gedenkfeiern auf dem Golm, wie wir sie heute kennen, gab es bis 1990 nicht.
Und wie in anderen Ländern?
Nils Köhler: Das Gedenken an die Opfer von Swinemünde war und ist auch heute ein anderes als in Hamburg, Dresden, Magdeburg oder anderen Städten, die verheerende Bombenangriffe erlitten. Das deutsche Swinemünde existiert nicht mehr. Es blieben die ehemaligen Swinemünder, die Flüchtlinge, Soldaten und ausländischen Zwangsarbeiter, die überlebten, aber andernorts ihr weiteres Leben verbrachten. So blieb es vor allem ein individuelles Gedenken. Erst nach 1990 fanden viele Überlebende auf dem Golm einen Ort für ihre Trauer, sie reisten regelmäßig von weither an, selbst aus den USA und aus den Niederlanden.
Welche Bedeutung hat der Golm heute?
Nils Köhler: Die Besucher, die heute auf den Golm kommen, sind andere als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Immer weniger sogenannte „Zeitzeugen“ des Zweiten Weltkrieges trifft man auf dem Friedhof an. Für jene ist es bis heute ein Ort individueller Trauer. Es sind immer mehr die Touristen, die diesen Ort für sich entdecken. Und die JBS Golm vermittelt diesen Ort allen Nachkriegsgenerationen. Die Bedeutung der Gräber auf dem Golm wandelt sich. Mehr und mehr wird der Golm ein Ort des Gedenkens, des Lernens und des Nachdenkens über Krieg und Gewalt auch in unserer Zeit.
Wie oft sind Sie noch vor Ort?
Klaus Utpatel: Es gibt feste Termine im Jahr: Am 12. März die Gedenkveranstaltung zum Bombenangriff auf Swinemünde, im November die Versammlung zum „Volkstrauertag“, zudem am 1. September das Treffen bei den deutschen Grabsteinen auf dem Friedhof Kaseburger Chaussee, Swinemünde. Im Übrigen: Besuche in der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte.
Nils Köhler: Ich habe zehn Jahre in Kamminke gelebt und die JBS Golm geleitet. Der Golm bleibt ein besonderer Ort für mich. Bei privaten Besuchen auf Usedom zieht es mich immer wieder dorthin.
Mariusz Siemiątkowski: Ich bin mehrmals in der Woche auf der Kriegsgräber- und Gedenkstätte – das ist meine Arbeit, aber auch viel mehr als das.