Das Bild aus dem Ghetto Warschau

Vom / LpB, Publikationen, Zeitzeugen

Das berühmte Foto von dem Jungen, der seine Hände hebt. Dahinter, mit einem Kreis markiert, ist Harry Chaim Nieschawer zu sehen, der Jüngling mit dem weißen Sack.

Von Hier nach Dort im Strom der Zeit — in ihrem Buch greift Batsheva Dagan Episoden ihres Lebens auf. „Dort” während der Shoah aus der Perspektive ihres Lebens „hier”. Das Buch wird von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt herausgegeben. Auszüge veröffentlichen wir auf politik-mv.de. Heute: das Bild aus dem Ghetto Warschau.

Es war das Jahr 2010. Ich befand mich in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, der Stadt, in der ich während des Zweiten Weltkrieges unter gefälschter Identität als katholische Polin bei einer Nazifamilie als Haushaltshilfe gearbeitet hatte. Meine Gastgeberin war die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit im Landtag, Claudia Richter.

Auf dem Höhepunkt meines Besuches rief eine Lehrerin namens Petra Klawitter bei Claudia Richter an und fragte: »Vielleicht wissen Sie, ob es bei Ihnen Kinderbücher zum Thema Shoah gibt?« »Ja«, antwortete Frau Richter, »zufällig befindet sich bei uns die Schriftstellerin Batsheva Dagan, Überlebende von Auschwitz, Ravensbrück und Malchow, und wir besitzen ihre Bücher.« »Was für ein Zufall!«, sagte Petra Klawitter, »vielleicht könnten Sie sie zu uns in die Schule einladen? Wir sind in Gelbensande, in der Gegend von Rostock. Unsere Schüler sind daran interessiert, Überlebende zu treffen und ihre Geschichten zu hören.« Wie ich später herausfand, widmete sich Petra Klawitter sehr intensiv dem Thema Shoah, wird sehr geschätzt und erhielt sogar Preise für ihre Arbeit.

Auf Seite 108 ein Name: Harry Chaim Nieschawer

Ich kam in die Schule. Petra erzählte mir, dass sich in der Nähe das Lager Schwarzenforst befand, eines der Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, wo Flugzeugteile für die Luftfahrt Nazideutschlands hergestellt wurden. Ohne Beziehung zu meinem Besuch hatte sie ihre Schüler ermuntert, das Schicksal der Überlebenden dieses Lagers zu erforschen. Die Ergebnisse fasste sie in einem Buch zusammen, das sie auch edierte und das 2006 unter dem Titel »Die dunklen Jahre von Schwarzenforst. Gelbensander Schüler erforschen deutsche Geschichte« erschienen war. »Könnten Sie mir das Buch zeigen?«, bat ich Petra. Sie zeigte es mir. Ich schlug das Buch auf, überflog das Inhaltsverzeichnis und entdeckte auf Seite 108 einen Namen: Harry Chaim Nieschawer. Ich war schockiert. Das war doch Chaim-Chaimek, ein Verwandter meiner Cousine Alunia! Die Großmütter von Harry und Alunia waren Schwestern gewesen!

In dem Artikel gab es zwei Fotos, eines von Harry als Jüngling und das sehr berühmte Foto aus dem Ghetto Warschau: ein kleiner Junge mit erhobenen Händen vor einem SS-Mann, der seine Waffe gegen ihn richtet, hinter ihm ein junger Mann, der einen weißen Sack auf seiner Schulter trägt. Unter diesem Foto stand geschrieben, dass die Identität des Jünglings, der den Sack auf der Schulter trägt, unbekannt sei.

Die Eltern fürchteten um sein Leben

Ich betrachtete das Foto, und mir war vollkommen klar, dass dieser Jüngling Harry Chaim-Chaimek Nieschawer war. Aber wie war das möglich? Harry war doch mit mir im Ghetto Radom gewesen, nicht im Ghetto Warschau. Ich schaute wieder ins Buch und las alles, was dort über sein Leben geschrieben stand. Die Information basierte auf Aussagen seiner Tochter Alisa.

Er wurde 1925 in der Kleinstadt Grujec bei Warschau geboren. Etwa die Hälfte der Bewohner dieses Städtchens waren Juden. Im Jahr 1942 wurden sie ins Ghetto Warschau deportiert. Chaim-Chaimeks Eltern fürchteten um sein Leben und schickten ihn zu seiner Großmutter, die sich im Ghetto Radom befand.

Nach meiner Rückkehr nach Israel kontaktierte ich den Referenz- und Informationsdienst in der Gedenkstätte Yad Vashem, um herauszufinden, was ihnen über die Identität des Jünglings mit dem weißen Sack bekannt war. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass drei Menschen behaupteten, sie seien Harry Nieschawer, der Jüngling, der auf dem Foto hinter dem kleinen Jungen mit den erhobenen Armen steht. Ich bat darum, die Information, die ich besaß, mit der über die anderen drei Menschen zu vergleichen, die behaupteten, die Identität des jungen Mannes zu besitzen, und ich suchte Beweise, dass es sich bei dem jungen Mann auf dem Foto tatsächlich um Harry Chaim-Chaimek Nieschawer, den Verwandten meiner Cousine Alunia, handelte. Ich erinnerte mich voller Rührung an Fotos in meinem Besitz, aufgenommen während meines Aufenthaltes in New York 1967 zusammen mit Chaim-Chaimek und seiner Familie, und ich verglich diese mit dem Bild des Jünglings mit dem weißen Sack. Kein Zweifel, das war derselbe junge Mann. Wie sich herausstellte, war die Aufnahme wirklich im Ghetto Warschau gemacht worden, mitten im Krieg, bevor Chaim-Chaimek ins Ghetto Radom geschickt wurde.

Kurze Zeit später erhielt ich die Bestätigung von Yad Vashem: Der Jüngling, der den weißen Sack trägt, war tatsächlich Harry Chaim Nieschawer! Ich schrieb an Harry und berichtete voller Freude, dass es mir gelungen war, seine Identität auf dem Foto vom Ghetto Warschau zu verifizieren. Gleichzeitig kontaktierte ich seine Tochter Alisa, erzählte ihr von meiner Initiative hinsichtlich Harrys Identität und sagte ihr, dass ich auf Antwort von ihm warte. Und da übermittelte mir Alisa die traurige Nachricht, dass ihr Vater, Harry Chaim Nieschawer, im vergangenen Jahr, 2009, gestorben war. Möge sein Andenken gesegnet sein.

Lesetipp

Batsheva Dagan: Von hier nach Dort im Strom der Zeit. Magdeburg 2018. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt

Kostenfrei zu bestellen – hier

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