Meine Socken, ein Museumsstück

Vom / LpB, Publikationen, Zeitzeugen

Die Socken, wie sie heute in der Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gezeigt werden.

Von Hier nach Dort im Strom der Zeit — in ihrem Buch greift Batsheva Dagan Episoden ihres Lebens auf. „Dort” während der Shoah aus der Perspektive ihres Lebens „hier”. Das Buch wird von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt herausgegeben. Auszüge veröffentlichen wir auf politik-mv.de. Heute: Meine Socken, ein Museumsstück.

Ende Januar 1945. Der Ort: Malchow, Nebenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, ein unterirdischer Keller für die Herstellung von Sprengstoff. Wir kamen nach dem Todesmarsch von Auschwitz-Birkenau dort an.

Wir, das war eine Gruppe von acht jungen Mädchen. Alles war von dickem Schnee bedeckt, die Kälte war eisig, der Hunger quälend, die leeren Mägen forderten Essen, nicht nur Brotkrumen. Alle Arbeitsplätze waren besetzt. Wer arbeitete, hatte eine Überlebenschance, aber wie fand man Arbeit?

Vor dem Eingangstor zur Wohnbaracke lag ein Haufen alter Kleider und Lumpen. Vielleicht ließ sich damit etwas anfangen? Vielleicht ließen sich daraus Läufer zum Säubern der Füße machen? »Lasst uns den Stoff in Streifen reißen, in Zöpfe flechten und sie mit Nadel und Faden zusammenfügen«, schlug ich vor. »Gute Idee«, sagten die Mädchen.

Aufgeregt wandte ich mich an die Aufseherin, um ihre Zustimmung zu erbitten. Zu unserer Freude erlaubte sie es und versprach sogar: »Ihr bekommt eine Extraportion Suppe für jeden Läufer.« Bei meiner Suche nach Stoff, der leicht in Streifen zu reißen war, fand ich ein verwickeltes Knäuel Baumwollfäden. Meine Füße waren kalt wie Eis, ich hatte keine Socken. Vielleicht könnte ich daraus Socken stricken? Hanka aus unserer Gruppe wusste, wie man Socken strickte. Aber womit stricken? Wir hatten doch keine Stricknadeln, und wir brauchten fünf davon. Wir drehten den Haufen um, aber es gab keine Stricknadeln, nur verwickelte Fäden von etwas, das aufgetrennt worden war. Wir nahmen das Knäuel.

Als Erstes entschieden wir, das Knäuel zu entwirren und die Fäden zu Bällen aufzurollen, sodass sie zur Verarbeitung bereit waren. In der Zwischenzeit würden wir weiter nach Stricknadeln suchen. Noch einmal drehten wir den Haufen um – wieder keine Stricknadeln. Plötzlich traten meine Füße auf einen dünnen, staubbedeckten Metallstreifen. Ich wischte ihn mit einem Lappen ab und wandte mich an Hanka: »Wir können anfangen, ich werde von dir lernen, wie man Socken strickt.«

Wir brachen den Metallstreifen in fünf Teile, und schon hatten wir Stricknadeln. Hanka rollte ihre Augen angesichts der fünf Eisenfäden und begann zu stricken. Sie ließ auch mich stricken, bis ich zur Ferse gelangte. Das war dann doch zu kompliziert für eine Strickanfängerin wie mich, und Hanka strickte die Fersen selbst.

In demselben Haufen fand ich auch kurze Fäden in den Farben rot und blau. Man muss ein wenig Farbe hinzufügen, wie im Leben, dachte ich. Ich verband Rot mit Grau und danach auch mit Blau und freute mich daran. Bald würde ich bunte Socken haben, und dann würden meine Füße warm sein, auch wenn es keine Wolle, sondern nur Baumwolle war. Ich strickte die Socken zu Ende und trug sie mit Freude. Auch nach der Befreiung. Ich war stolz auf sie. Ich hatte selbstgestrickte Socken! Ich trug sie, bis sie von dem vielen Gebrauch Löcher bekamen … Ich flickte und stopfte sie immer wieder. Einen solchen Schatz konnte ich nicht in den Abfall werfen. Viele Jahre lagen die Socken in meiner Schublade, bis Museen in aller Welt begannen, Objekte von Überlebenden der Shoah zu sammeln.

Im April 2013 öffnete ein Museum in dem Gebäude in Ravensbrück, das der SS im Zweiten Weltkrieg als Lagerkommandantur gedient hatte. Nachdem der Ort, an dem einst das Lager Malchow gewesen war, sich in ein Feld verwandelt hatte, auf dem nur Unkraut spross, entschied ich, die Socken diesem Museum zu übergeben. Sie erhielten einen Ehrenplatz in einer Glasvitrine, und daneben ist ihre Geschichte zu lesen.

Lesetipp

Batsheva Dagan: Von hier nach Dort im Strom der Zeit. Magdeburg 2018. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt

Kostenfrei zu bestellen – hier

Hintergrund

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