Stimmen aus Ravensbrück

Vom / Landeskunde, Zeitzeugen

Als Nummern standen bereit 18.000 Frauen im blaugrau gestreiften Kleid, zum Zählappell in Ravensbrück. Sie standen und standen stundenlang, bevor die SS zu zählen begann.“ Zeilen wie diese inspirierten Künstlerin Pat Binder, Gedichten und Zeichnungen aus dem Frauen-KZ einen virtuellen Raum zu geben. Ihre „Stimmen aus Ravensbrück“ gehörten zu den ersten Gedenkprojekten im Internet. 

Maria Günzl ist Anfang 40, als die Nazis die Kreissekretärin der tschechischen sozialdemokratischen Partei in Karlsbad verhaften. Als eine der ersten kommt sie 1939 in Ravensbrück, dem größten Frauen-Konzentrationslager auf deutschem Gebiet, an. Bis 1945 werden es weit mehr als 120.000 Frauen sein. Der Alltag im Lager: Geraubte Würde. Zwangsarbeit. Arrest. Krankheit. Hunger. Tod.

Täglich müssen die Frauen zum Appell. Draußen. Bei Wind und Wetter. „Sie standen und standen stundenlang, bevor die SS zu zählen begann“, schreibt Maria Günzl in ihrem Gedicht „Zählappell“. „Körper, die geschunden, Füße mit schmerzhaften Wunden, hielten dem nicht stand. Der Tod reiche Ernte hier fand.“ 

Maria Günzl ist eine von mehr als 130 Frauen, die das Leben im Lager mit Gedichten in Worte fassen, ihrem Schicksal damit eine Stimme geben. „Allein in Ravensbrück und seinen Außenlagern wurden mindestens 1200 Gedichte verfasst. Heimlich und unter Lebensgefahr“, sagt Pat Binder. Als in ihr die Idee reift, diese Zeitzeugnisse online künstlerisch aufzubereiten, steckt das Internet noch in den Kinderschuhen. Die Zeit steht in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Die in Argentinien geborene Künstlerin lebt seit einem Jahr in Berlin und erhält eine Einladung, bei einer großen Ausstellung über Ravensbrück mitzumachen. Das Projekt scheitert an fehlendem Geld. Die Gedichte, auf die sie bei ihren Recherchen gestoßen ist, lassen Pat Binder jedoch nicht mehr los. Gemeinsam mit Kunsthistoriker und Kurator Gerhard Haupt betreibt sie zu jener Zeit bereits „Universes in Universe“, eine der ersten Websites für Kunst. „Da lag es auf der Hand, zu versuchen, es online zu machen.“ 

Pat Binder verwebt die Gedichte mit Zeichnungen von Häftlingen, historischen und aktuellen Fotos, Videos, Animationen, Tonsequenzen – und vielen Kontextinformationen. Screenshots: Pat Binder

Als die „Stimmen aus Ravensbrück“ im Jahr 2000 online gehen, gehören sie zu den ersten virtuellen Gedenkräumen im Netz. Und frühen Beispielen, die digitale Technologien und medienpädagogische Ansätze miteinander verbinden. Das Fundament der Seite sind Forschungen von Constanze Jaiser. Die Literaturwissenschaftlerin promovierte mit einer Arbeit über Lyrik aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.

20 Jahre später: Die Zeit, in der Corona viele Künstler ausbremst, nutzt Pat Binder, um die Seite in Kooperation mit der RAA-Geschichtswerkstatt zeitlupe aus Neubrandenburg neu zu arrangieren. Sie fügt weitere Gedichte, Zeichnungen und Dokumente hinzu, vertieft Kontexte, ergänzt Biografien. Und passt die Seite technisch so an, dass sie auch auf mobilen Geräten genutzt werden kann. Vor dem Hintergrund, dass es kaum noch Zeitzeugen gebe, brauche es Formate, die über das rationale Verstehen von Fakten hinaus einen Zugang zu Geschichten und Schicksalen ermöglichen und eine lebendige Erinnerungskultur wachhalten, beschreibt Pat Binder ihre Motivation. 

Die „Stimmen aus Ravensbrück“ geben in zehn Themengebieten Einblick in den täglichen Kampf ums Überleben. Hier ein Beispiel aus dem Abschnitt „Ankunft“.

Polnisch, Niederländisch, Französisch, Deutsch: Die Gedichte aus dem KZ sprechen viele Sprachen. Soweit möglich veröffentlich Pat Binder sie auch im Original. Damit das Projekt weltweit zugänglich ist, gibt es die gesamte Seite außerdem auf Englisch. Am Ende beider Versionen können die Seitenbesucher/innen als Zeichen des Gedenkens eine virtuelle Rose in den Schwedtsee legen. Warum in den Schwedtsee? Hier wurde einst die Asche der KZ-Toten hineingeschüttet.

Für die Künstlerin wohne den Gedichten und ihren Biografien neben dem Gedenken auch die Verantwortung inne, dass sich Geschichte nicht wiederholen dürfe. 78 Jahre nach Befreiung der Konzentrationslager sei dieses Bewusstsein wichtiger denn je. „Nicht nur im Zusammenhang mit geschichtlichem Verständnis, sondern auch für den Stellenwert der Demokratie als solche.“ 

Und Maria Günzl? Sie überlebt das KZ, engagiert sich weiterhin politisch, wird in den Bayerischen Landtag gewählt und stirbt 1983 in München. Insgesamt zehn Gedichte von ihr sind überliefert. Der „Zählappell“ endet mit den Zeilen: 

Es verkrampften sich Beine und Herz
vor unsagbarem Schmerz.
Und viele fielen zu Boden.
Man zählte nicht die Toten.

Aber es kam ein zweites Gericht
über die Armen ohne Erbarmen.
Man stieß mit Füßen
die Toten ins Gesicht.

Es regte sich kein menschliches Empfinden,
wer konnte da noch Glauben finden
an ein Weiterleben,
wenn Vertiertheit und Tod nicht gerächt?

O, verdammtes Menschengeschlecht!


Hintergrund

1939 ließ die SS in Ravensbrück das größte Frauenkonzentrationslager auf deutschem Gebiet errichten. Im Laufe des Krieges entstanden mehr als 40 Außenlager, unter anderem in Neubrandenburg. Bis Ende April 1945 waren im KZ Ravensbrück mehr als 140.000 Menschen aus über 30 Nationen registriert, überwiegend Frauen und Kinder. Zehntausende wurden ermordet, starben an Hunger, Krankheiten oder infolge medizinischer Experimente. Manche Frauen brachten das, was sie sahen, erlebten, fühlten in Gedichten zum Ausdruck. Schmerz und Kummer. Sehnsucht und Angst. Trost und Hoffnung. „Die Worte wurden solange im Gedächtnis wiederholt, bis sie sich von selbst einprägten. Sie wurden an die Nächsten weitergegeben oder sogar in heimlich organisierten kulturellen Abenden in der Baracke rezitiert und auch gesungen“, schreibt Constanze Jaiser auf der Homepage von „Stimmen aus Ravensbrück“. „Das Gedicht, so könnte man sagen, wird zum Gefäß lebendiger Existenz.“ Und zum Zeugnis für die Nachwelt. „Falls es Lehrkräfte inspiriert, Unterrichtseinheiten in Form von Arbeitsblättern zu erarbeiten und anderen zur Verfügung zu stellen, könnten diese als PDF in die Website eingebunden werden“, betont Pat Binder. 

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