Gedichte aus dem Gefängnis

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Bild: DuG

Protest, Verweigerung und Opposition in der DDR. Für ihre Sonderausstellung sucht die Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock persönliche Erinnerungsstücke – wie jene Gedichte, die eine Zeitzeugin heimlich geschrieben hat. Unser Interview mit DuG-Leiterin Dr. Steffi Brüning über ihren Aufruf zum Mitmachen, über besondere Leihgaben für eine besondere Sammlung.

Dr. Steffi Brüning

Eine Mitmachausstellung zum Protest in der DDR. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Dr. Steffi Brüning: In die Gedenkstätte kommen regelmäßig Menschen, die uns einen Teil ihrer Geschichte erzählen. Das sind oft Personen, die in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit und der SED aus politischen Gründen inhaftiert oder beobachtet und kontrolliert wurden. Sie bringen ab und zu persönliche Erinnerungsstücke mit oder zeigen Fotos davon. Ich fand es immer schade, dass nur wir diese spannenden Stücke sehen und vor allem die Geschichten drumherum hören können. Mir kam deswegen der Gedanke, dass wir über diese Erinnerungsstücke, wenn wir sie als Ausstellungsobjekte verstehen, unglaublich viel vermitteln können – DDR-Geschichte: greifbar und anschaulich. Gleichzeitig würdigen wir damit die Menschen, die im Alltag so viel Mut gezeigt haben und heute oft nicht sichtbar sind.

Wie lautet Ihre Zwischenbilanz: Machen die Rostocker/innen mit?

Ich habe gerade in den ersten Wochen nach der Veröffentlichung unseres Aufrufs viele interessante Gespräche geführt. Menschen haben sich gemeldet und wollten manchmal ganz direkt ein Objekt für die Ausstellung leihen. Viel häufiger haben sie aber erstmal Fragen gehabt: Bedeutet ein Brief schon Protest? Ist mein Erinnerungsstück es überhaupt wert, öffentlich gezeigt zu werden? Wir haben bewusst den Aufruf sehr offen formuliert, um genau solche Fragen nicht schon im Vorfeld zu beantworten. Wir wollen sehen, wie Menschen selbst Verweigerung oder Protest definieren. Auch das bedeutet Beteiligung. Ich merke hier viel Unsicherheit und ein vorsichtiges Herantasten an das Thema. Einige haben mir auch zurückgemeldet, dass sie angefangen haben, in ihren Schubladen oder Kartons im Keller zu stöbern und dabei etwas entdeckt haben. Auch das freut mich ungemein: Der Aufruf führt dazu, dass Personen sich mit ihrer Biografie oder der Geschichte ihrer Familie beschäftigen, auf Spurensuche gehen. Ich hoffe sehr, dass das auf stärkende und positive Weise funktioniert. Deswegen möchten wir alle motivieren und ermutigen, mitzumachen. Vor allem auch diejenigen, die sich im Stillen, im Privaten, im Alltag verweigert haben und bisher keine große Sichtbarkeit erreicht haben.

Das erste Erinnerungsstück haben wir schon vorgestellt. Was ist seither dazugekommen?

Wir haben ganz verschiedene Leihgaben bekommen. Eine Zeitzeugin, die ich im letzten Jahr kennengelernt habe und die hier in Rostock in Untersuchungshaft war, erzählte mir am Telefon, dass sie im Strafvollzug heimlich Gedichte geschrieben hat. Um diese behalten zu können, versteckte sie die Gedichte eingenäht in Schuhe, die ihre Mutter ihr für den Winter bringen durfte und im Frühjahr bei einem Besuch wieder abholte. Die Gedichte sind so unbemerkt aus dem Gefängnis gekommen. Sie hat zwar die Originalgedichte und Schuhe nicht mehr, aber Abschriften davon. Das ist für mich ein ganz besonderes Erinnerungsstück, weil es für Widerständigkeit und Kreativität auch in einer extremen Situation wie politischer Haft steht.

Falls ich ein Erinnerungsstück abgeben möchte: Wie geht das überhaupt?

Das ist gar nicht schwer. Ich empfehle allen, sich vor der Abgabe bei uns zu melden, entweder per Telefon oder Mail. Dann machen wir einen Termin aus, treffen uns und sprechen miteinander. Bei diesem Gespräch können wir über alle offenen Fragen, Zweifel, Wünsche reden. Es gibt einen Leihvertrag und ein Formular für jedes Objekt, das wir zusammen durchgehen und ausfüllen. Im Anschluss verwahren wir die Objekte in der DuG und melden uns dann bei allen Leihgeber/innen, wenn die Ausstellung konkrete Formen annimmt und der Eröffnungstermin feststeht oder wir noch Fragen haben. Ganz wichtig: nach dem Ende der Ausstellung geht alles zurück an die Leihgeber/innen!

Die Sammlung läuft bis 1. Februar. Wie geht es danach weiter?

Nach der Abgabefrist beginnt bei uns der herausfordernde Teil: eine Ausstellung aus den Objekten zu formen, die die Objekte angemessen zeigt und gleichzeitig auch noch Informationen zur Einordnung gibt. Unsere Zielgruppen sind neben Zeitzeug/innen Tourist/innen, Studierende, Jugendliche und Erwachsene, Menschen mit Behinderungen – also alle, die uns besuchen, alle, die Interesse an Geschichte haben. Was brauchen unterschiedliche Menschen, damit die Ausstellungsidee funktioniert? Wie zeigen wir die so verschiedenen Stücke? Das sind nur einige Fragen. Ich glaube, das wird eine sehr spannende Zeit, bis die Ausstellung dann wirklich steht.

Und die Ausstellung: Wann beginnt die?

Wir planen, die Ausstellung rund um das 70. Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 2023 zu eröffnen. Dann bleibt sie bei uns bis mindestens zum Ende des Jahres 2023. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir an einzelnen Stellen noch Erweiterungsmöglichkeiten einplanen, falls sich jemand während der Ausstellung entschließt, mitzumachen.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich freue mich riesig darauf, die fertige Ausstellung zum ersten Mal zu sehen. Das ist immer ein besonderer Moment. Noch mehr freue ich mich aber darauf, die Ausstellung gemeinsam mit den Leihgeber/innen erstmals anzusehen.

Bild: DuG

Die Mitmachausstellung

2023 jährt sich der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zum 70. Mal. Anlässlich dieses für die deutsche Demokratie- und Freiheitsgeschichte bedeutenden Datums startet die LpB MV ein Themenjahr rund um Protest, Verweigerung und Opposition in der DDR.

Die Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock plant dafür eine Sonderausstellung zum Mitmachen. Gezeigt werden sollen persönliche Erinnerungsstücke von Menschen aus dem ehemaligen Bezirk Rostock: Briefe und Eingaben, Fotos, Plakate oder Kunstobjekte, Ton- und Videoaufnahmen, Buttons, Aufnäher, Kleidungsstücke und Gedichte. Die Sammlung der persönlichen Erinnerungsstücke läuft bis 1. Februar 2023. Weiterlesen

Kontakt

Dokumentations- und Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit Rostock

Grüner Weg 5, 18055 Rostock

Ansprechpartnerin: Dr. Steffi Brüning

Mail: S.Bruening@lpb.mv-regierung.de

Telefon: 01573 0285136

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