„Es gärte an allen Orten“

Vom / Landeskunde, LpB, Zeitzeugen

Bild: Roland Hartig, Rostock

Rostock im Herbst 1989. „Es gärte an allen Orten“, erinnert sich Pastor em. Arvid Schnauer, der damals u.a. Friedensandachten organisierte und später Vorsitzender des Rostocker Gerechtigkeitsausschusses war. Mit ihm hat die Volkshochschule und die Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock zwei Veranstaltungen zur Friedlichen Revolution geplant – für 5. Oktober und 16. November.

Hintergrund

Die Friedliche Revolution im Herbst 1989 war das Resultat eines Zusammenspiels vielfältiger Faktoren, die letztlich den Zusammenbruch des Herrschaftssystems der SED bewirkten und damit den Boden für den Vereinigungsprozess beider deutscher Staaten bereiteten. In Rostock wie in anderen Städten spielten dabei Engagierte in den Kirchen eine große Rolle. In der Rostocker Petrikirche fand am 5. Oktober 1989 die erste Fürbittandacht mit 500 Personen statt – schnell vergrößerten sich die Andachten, am 19. Oktober demonstrierten dann tausende Menschen erstmals durch die Stadt.

Während die Demonstrierenden mutig und immer lauter ihre Forderungen nach Freiheit und Demokratie in die Öffentlichkeit trugen, bröckelte die Herrschaft der SED zunehmend – das Regime war nicht mehr zu halten.

Noch im selben Jahr etablierte die Rostocker Stadtverordnetenversammlung den „zeitweiligen Gerechtigkeitsausschuss“, dessen Aufgabe es war, Fälle politischen Unrechts in der DDR zu bearbeiten und zu rehabilitieren. Hier startete ein besonderer Prozess von Aufarbeitung.

Interview mit Arvid Schnauer

Pastor em. Arvid Schnauer

Pastor em. Arvid Schnauer ist für seinen jahrzehntelangen Einsatz für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit, so auch für sein besonderes Engagement während der Friedlichen Revolution, in diesem Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Vor den Veranstaltungen am 5. Oktober und 16. November haben wir ihn nach seinen Erinnerungen an 1989/90 befragt.

Arvid Schnauer, 33 Jahre sind vergangen, seitdem die Bevölkerung in der DDR mutig gegen die SED aufbegehrt hat. Wenn Sie heute an den Herbst 1989 denken, welches Bild haben Sie zuerst vor Augen?
Arvid Schnauer: Es sind zwei Bilder, die sich eingegraben haben. Einmal: wie sich nach dem 3. Friedensgebet in der Marienkirche am 19. Oktober ohne jegliche Mithilfe und Vorbereitung kirchlicher Mitarbeiter spontan die erste Demonstration bildete und die Menschen mit den Kerzen in den Händen hinter dem Schmetterling durch die Straßen zogen. Und als in der Langen Straße zum ersten Mal die Straßenbahnen für den Zug stoppten und uns vorbeiziehen lassen mussten, hatte ich tatsächlich Tränen in den Augen.

Und das zweite Bild?

Das zweite Bild ist, wie fast 20 völlig verschiedene Menschen am 21.11.89 die Treppe in den Versammlungsraum II des Rathauses zur ersten Sitzung des Gerechtigkeitsausschusses hochgingen, voller innerer Unruhe und Unsicherheit, aber auch in dem festen Willen, Neues zu schaffen und Unrecht aufzuarbeiten.

Wie war damals die Situation in Rostock?

Es gärte an allen Orten, in der Universität und den Kirchgemeinden, das Neue Forum hatte an Boden gewonnen – „Nathan Frank“ stand an einem Briefkasten, in den man seine Mitarbeitsbereitschaft einstecken konnte.

Die Ausreisewelle, die Gründung von Umweltgruppen, der konziliare Prozess der ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, das Blutbad auf dem Platz des himmlischen Friedens mit der begeisterten Befürwortung von Egon Krenz im Neuen Deutschland, Andachten der Betroffenheit – kurz, die Zeit war reif für Neues.

Welche Themen bewegten Sie am meisten?

Es musste sich etwas ändern, Menschen sollten Recht bekommen, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und Stasi-Überwachung sollte aufhören, die ideologische Indoktrination sollte zu Ende sein und jeder sein Leben so gestalten können, wie er es wollte. Die aufgedeckten Waffentransporte und das geöffnete Lager in Kavelstorf entsetzen viele Menschen und ließen sie die wahren Hintergründe und die Doppelzüngigkeit der Staatsmacht erkennen.

Sie waren in die Organisation der Andachten in Rostock eingebunden. Wie können wir uns das vorstellen?

Eine Gruppe kirchlicher Mitarbeiter, Studenten und der Umweltkreis der Petri/Nikolaigemeinde unter Zustimmung des Kirchgemeinderats plante Fürbittandachten für die Opfer, bildete eine Vorbereitungsgruppe, die am Alten Markt ihren Sitz hatte. In dieser Gruppe wurden Informationen aus der ganzen DDR gesammelt und geprüft und dann Texte und die Predigt für die zunehmende Zahl der Andachten in zuletzt sechs Kirchen kopiert. Diese Kopien sind von den Verantwortlichen eine halbe Stunde vor Beginn in den anderen Kirchen abgeholt und an Sprecher verteilt worden; formulierte Gebetstexte und Fürbitten, damit jeder am nächsten Tag bei der Arbeit dieselben Informationen gehört und erlebt hatte.

Dazu kamen Demos auf der Straße. Wie bewegten Sie Leute zum Mitmachen?

Die größer werdenden Demonstrationen, die Andachten in fast allen Kirchen und der Druck der Straße rissen Zögernde mit, so dass mancher mitging und sich den Demonstrationen anschloss – ohne dass wir sie zum Mitmachen auffordern mussten. Zudem skandierten die Demonstrationszüge häufig: „Schließt euch an!“, und die Gespräche morgens bei der Arbeit über die oft schlimmen Informationen aus den Friedensgebeten taten das Ihre.

Spielte Angst eine Rolle?

Ja natürlich, gab es doch noch immer den alten Machtapparat – Staatsanwälte und Kriminalpolizei waren bis zum Jahr 1991 im Dienst!, und in Betrieben und Behörden versuchten Scharfmacher und Fanatiker, Einfluss auf unsichere Menschen zu gewinnen bzw. sie zu schikanieren, wenn auch eine Erklärung der Volkspolizei, sich mit dem Volk zu solidarisieren, Beruhigung verströmte.

Die Demo-Teilnehmer/innen von damals: Treffen Sie die noch heute?

Ich kenne Gruppen, die sich bis heute im November zu Abenden der Begegnung treffen, und da bis heute Literatur und Veröffentlichungen über die Friedliche Revolution erscheinen, haben viele darüber Kontakt und erhalten neue Informationen.

Die Veranstaltungen

Die Volkshochschule Rostock und die Dokumentations- und Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit (DuG) Rostock organisieren zwei Veranstaltungen mit Pastor em. Arvid Schnauer.

Am 5. Oktober 2022, 19 Uhr in der Volkshochschule Rostock, Am Kabutzenhof 20a: Rostock im Herbst 1989 – Auf dem Weg zur Friedlichen Revolution

Am 16. November 2022, 18 Uhr in der DuG Rostock, Grüner Weg 5: Der Rostocker Gerechtigkeitsauschuss. Buchvorstellung und Gespräch. Moderation: Dr. Enoch Lemcke

Die Veranstaltungen sind kostenfrei, um vorherige Anmeldung unter 0381 381-4300 oder www.vhs-hro.de wird gebeten.

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