Am Leben vorbei

Vom / Landeskunde, Zeitzeugen

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Am Leben vorbei. So heißt die neue virtuelle Ausstellung über das Leben behinderter Kinder und Jugendlicher in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken.

Für die Online-Fassung sind 13 Rollbanner aus der bestehenden Wanderausstellung der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur aufbereitet worden. Themen sind u.a. die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen, ihre Betreuung, Integration, die Bildungs- und Therapieangebote in staatlichen und konfessionellen Einrichtungen sowie die gegen sie gerichteten Zwangsmaßnahmen. Ebenso wird die häusliche Pflege in den Blick genommen. Sechs Einzelschicksale dokumentieren die Lebenswelten von Mädchen und Jungen mit unterschiedlichen Behinderungen.

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Die Fachtagung vom 18. März zum Nachschauen – hier

„Das Bild bekommt tiefe Risse”

Außenstelle der Bezirksnervenklinik Schwerin in Dobbertin, Rückansicht Haus 16. Foto: Landeshauptarchiv Schwerin, LHA SN 7.11-1/31 BNK Schwerin, Signatur: Nr. 83

Vorbildliches Gesundheits- und Sozialwesen in der DDR? „Ein Mythos”, sagt die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anne Drescher. Beim Umgang mit behinderten Menschen hätten Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander geklafft. Hier ein Auszug aus unserem Interview vom 15. März.

Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Bislang war über ihr Leben in der DDR wenig bekannt. Weshalb?

Anne Drescher: Vor dem von der UNO für 1981 ausgerufenen „Internationalen Jahr der Behinderten”, das auch in der DDR als „Jahr der Geschädigten” begangen wurde, spielten behinderte Menschen in der Öffentlichkeit der DDR kaum eine Rolle. Von der Staatsführung wurde der Eindruck erweckt, dass im Sozialismus behinderte Menschen ein Recht auf Förderung und Fürsorge genießen würden. Anspruch und Wirklichkeit klafften aber insbesondere aufgrund materieller Zwänge weit auseinander. Die oft menschenunwürdigen tatsächlichen Lebensumstände, denen behinderte Menschen, darunter Kinder und Jugendliche, in den Einrichtungen ausgesetzt waren, wurden in der Öffentlichkeit nicht thematisiert.

Wann hat sich das geändert?

Unmittelbar nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze, noch im Dezember 1989, gab es für diesen Bereich eine erst finanzielle Soforthilfe aus der BRD in Höhe von 152 Mio. DM. In unkomplizierter Weise konnten Heimen und Pflegeeinrichtungen so dringend benötigte Geräte und Pflegematerialien zur Verfügung gestellt werden, vom Dosenöffner bis zu Waschmaschinen, Rollstühlen, Hebegeräten, Krankenhausbetten und Dekubitusmatratzen.

Anne Drescher, Landesbeauftragte. Foto: LAMV/B.Bley

Wie ging es nach der Wiedervereinigung weiter?

Nach 1990 gab es im Zuge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion weitere materielle Hilfen. Eine Verbesserung der Lebenssituation der behinderten Menschen konnte aber nur langfristig durch hohe Investitionen erreicht werden, die insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre geleistet wurden. Dazu gehörten auch die Übernahme der Einrichtungen – oft durch freie Träger, die behindertengerechte Sanierung von Gebäuden, die Erhöhung des Personalschlüssels und die Anwendung neuerer wissenschaftlicher Ansätze in der Förderung.

Wer meldet sich heute bei der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“?

An die Stiftung wenden sich Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in der DDR in sonderpädagogischen, psychiatrischen oder Behinderteneinrichtungen untergebracht waren: in Nervenkliniken und deren Außenstellen, in kirchlichen und staatlichen Behinderteneinrichtungen oder in Internaten von Hilfs- bzw. Sonderschulen. Für heute noch fortwirkende Folgen ihrer Unterbringung können diese Menschen einen Ausgleich der Stiftung erhalten. Angemeldet werden diese Menschen oft durch Betreuer oder Angehörige.

Wie lauten die ersten Erkenntnisse?

Das Bild eines vorbildlichen Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR erweist sich als Mythos und bekommt tiefe Risse. Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen als schwächsten Gliedern der Gesellschaft zeigt sich in der DDR eine tiefe Diskrepanz zwischen den ideologischen Phrasen und den erschütternden Zuständen in den Einrichtungen. Durchgängig vom Anfang bis zum Ende der DDR sind gerade diese häufig von der bloßen Verwaltung des Mangels geprägt. Die unzureichende personelle und materielle Ausstattung ist eine wesentliche Ursache für strukturelle, physische und psychische Gewalt, der die Betroffenen ausgesetzt waren.

Benannt werden soll aber auch, dass ein großer Teil der Mitarbeiter dieser Einrichtungen durch hohes persönliches Engagement und einfühlsame mitmenschliche Zuwendung versuchte, die schlimmen Missstände abzumildern.

Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Es gibt sehr viele, zum Teil sehr bedrückende Berichte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zum Gespräch hatte sich eine Mutter mit ihrer knapp 50-jährigen Tochter gemeldet. Das Mädchen wurde auf Grund ihrer körperlichen und geistigen Behinderungen schon früh in Einrichtungen eingewiesen, in denen sie nur „verwahrt“, mit Medikamenten sediert wurde und keinerlei Förderung erhielt. Erst nach der Wiedervereinigung wurde sie in einem auf sie zugeschnittenen Wohnprojekt untergebracht, konnte in einer geschützten Werkstatt arbeiten und wurde individuell gefördert. Das Mädchen lernte sprechen und konnte ihren Möglichkeiten entsprechend einigermaßen selbstbestimmt leben. Die Mutter war fassungslos über diese Fortschritte und sie fragte sich, was alles mit der richtigen Förderung vom Kleinkindalter an für ihre Tochter erreichbar gewesen wäre. Am meisten berührte sie, dass sie nun mit ihrer Tochter kommunizieren konnte, was sie bis dahin nie für möglich gehalten hatte.

Beratung

Für heute noch fortwirkende Folgen ihrer Unterbringung können Betroffene einen Ausgleich bei der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ erhalten. Anmeldungen dafür sind bis 30. Juni 2021 möglich. Fragen zur Beratung, zum Verfahren und zu den Leistungen richten Sie bitte an stiftung@lamv.mv-regierung.de. Telefon 0385/55156901.

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