Alleingelassen in Großbritannien

Vom / Blick über den Tellerrand, Europawahl, Politik

Ein Gastbeitrag von Marlene Sindt.

Ich bin im November 2016 nach London gezogen. Fünf Monate nach dem historischen Referendum. Von Anfang an hatte der Brexit einen großen Einfluss. Meine erste direkte Erfahrung bei diesem Thema hatte ich in meiner ersten Woche in einem Pub. Hier zeigte sich, wie gespalten das Land ist. Die Frage, wo ich denn herkomme, führte – wie so häufig – zu der Frage, wie ich zum Brexit stehe. Dann zu einer Diskussion, die irgendwann auszuarten drohte, hätte ich nicht irgendwann darauf bestanden, das Thema zu wechseln. Und dies blieb leider kein einzelnes Erlebnis.

Die meisten meiner Freunde sind wie ich pro Remain. Wenn wir über den Brexit sprechen, wird klar, dass für die meisten von uns eine Verlängerung des Artikels 50 und ein zweites Referendum die sinnvollste Lösung wäre. Jetzt, wo die meisten Leute wissen, was Brexit wirklich bedeuten würde. Aber es gibt in meinem Umkreis auch Leute, die pro Brexit sind und dies vehement verteidigen. Bekannte, Kollegen auf der Arbeit und Menschen, mit denen ich zusammen zum Fußball und danach in den Pub gehe. Mit ihnen vermeide ich es ehrlich gesagt meistens, über das Thema zu reden, weil es mittlerweile einfach nur noch müßig und frustrierend ist.

Mein Freundeskreis hier ist international und vor allem europäisch. Er besteht – neben Briten mit Wurzeln aus allen Ecken der Welt – eben auch aus einem Teil der 3,5 Millionen Europäer, die Großbritannien zu dem machen, was es ist. Griechen, Skandinavier, Osteuropäer, Italiener, Luxemburger, Österreicher, Schweizer, Deutsche. Und wir alle machen uns Sorgen, wie es nach dem 29.3.2019 weitergeht. Ein paar sind schon zurück nach Europa gegangen. Andere überlegen, ob sie bleiben sollen oder nicht. Für alle ist hier ist Großbritannien ihr zweites Zuhause geworden. Aber die Stimmung im Land ist aufgeheizt. Man fühlt sich irgendwie als Bürger zweiter Klasse. Nun habe ich Glück und gehöre aus Sicht der rechten Leave-Unterstützer zu den noch „guten“ Immigranten. Ich bin weiß, christlich und komme nicht aus Osteuropa. Ich bin daher zum Glück noch kein Opfer von Rassismus im Zusammenhang mit dem Brexit geworden, Leute aus meinem Freundeskreis aber schon. Wie wird das weitergehen? Wird das nach dem Brexit noch schlimmer werden?

Aber nicht nur das macht uns Sorgen. Was passiert bei einem No-Deal Szenario? Werden wir uns weiterhin so einfach auf offene Stellen bewerben können? Ich bin nach England gezogen, um in einem bestimmten Bereich zu arbeiten. Aktuell muss man dort als EU-Bürger drei Jahre in Großbritannien gelebt haben, um sich bewerben zu dürfen. Im November dieses Jahres wäre es bei mir so weit. Ich werde zu diesem Zeitpunkt aber nur den „pre-settled“-Status haben, also noch kein vollständig registrierter EU-Bürger sein. Was ist, wenn diese Stellen dann entweder EU-Bürgern gar nicht mehr offen stehen, also nur noch britischen Staatsbürgern, oder nur Menschen mit „settled“-Status? Dann müsste ich nochmal über zwei Jahre warten, bis ich dies überhaupt beantragen kann.

Bekommen wir den „settled“-Status überhaupt genehmigt, wenn wir ihn beantragen, oder werden uns in den nächsten Jahren irgendwelche Steine in den Weg gelegt? Und ist das Home Office diesem Ansturm an Anträgen überhaupt gewachsen oder droht ein neuer „Windrush- Skandal“, bei dem Menschen aufgrund administrativer Fehler undokumentiert bleiben?

Ein gutes Beispiel, wie sehr diese Unsicherheit uns betrifft und wie sehr sie unsere Entscheidungen beeinflusst, ist mein Mitbewohner Francesco. Im Oktober ist unser Mietvertrag ausgelaufen und unser Vermieter hat uns angeboten, diesen für ein Jahr zu verlängern. Francesco hat sich dagegen entschieden und nur für sechs Monate unterschrieben, da er nicht weiß, wie es für ihn als Freelancer nach dem Brexit weitergeht. Ob er nach dem 29.03. nicht wieder zurück nach Italien geht. So wie ihm geht es vielen hier und alles, was uns bleibt, ist abzuwarten und zu sehen, was passiert. Denn einen konkreten Plan hat diese Regierung schon lange nicht mehr.

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