
Stolpersteine erinnern an das Schicksal von Opfern des Nationalsozialismus. Mit einer App kann man sich jetzt über die betroffenen Menschen digital informieren. Zum Beispiel über die Familie Kychenthal in Schwerin.
Am Marktplatz der Landeshauptstadt hat die Ministerin für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten, Bettina Martin, am Dienstag gemeinsam mit dem Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, Jochen Schmidt, die App „Stolpersteine Digital“ vorgestellt. Vor den Stolpersteinen der Familie Kychenthal, die hier eingelassen sind.

In zahlreichen Städten und Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern finden sich Stolpersteine. In Schwerin sind aktuell 98 Stolpersteine und eine Stolperschwelle verlegt. Die Biographien der NS-Opfer, die nun über die App eingesehen werden können, wurden von Mitgliedern der „Stolpersteininitiative Schwerin“ verfasst.
Nutzerinnen und Nutzer der App können mit der Kamera ihres Mobiltelefons Stolpersteine scannen und so die Biografie des Menschen abrufen, an den dort erinnert wird. Zudem enthält die App eine Gedenkfunktion. Mit Hilfe von Augmented Reality kann eine Kerze am Stolperstein platziert werden und mit einer Gedenkbotschaft und dem eigenen Namen ergänzt werden. Andere Nutzerinnen und Nutzer der App können diese Kerzen dann auf ihrem Mobiltelefon sehen. Die Kerzen verbleiben für einen Zeitraum von sieben Tagen in der virtuellen Realität.

„Gerade in einer Zeit des ansteigenden Antisemitismus ist das Erinnern daran, was die Nationalsozialisten den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern angetan haben, umso wichtiger“, sagte Kulturministerin Bettina Martin am Dienstag. „Wir dürfen als Gesellschaft diese furchtbaren Geschichten nicht vergessen – das ist unsere Verantwortung, damit so etwas nie wieder passiert. Dass wir die Stolpersteine nun auch ins Digitale übertragen, ist von großem Wert. Die App Stolpersteine Digital hilft dabei, die Biografien der Menschen sichtbar zu machen und damit auch die Erinnerung an das Schicksal jeder einzelnen Person.“

Die App ist ein Projekt der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und wurde vom IT-Dienstleister Dataport realisiert. In den Bundesländern Schleswig-Holstein und Bremen wird die App ebenfalls verwendet. Das Land MV finanziert das Projekt zunächst mit insgesamt 20.000 Euro. In den kommenden Monaten werden die Stolpersteine in weiteren Orten des Landes erfasst.

„Die Stolpersteine in ganz Mecklenburg-Vorpommern werden in Zukunft zu digitalen Biografieträgern“, sagte Jochen Schmidt, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung. „Mit der App können wir alle Stolpersteine im Land zentral erfassen und Schulklassen und Interessierte können den Biografien nachspüren.“

In den kommenden Monaten werden die Stolpersteine in Pasewalk, Stralsund und Rostock integriert. Ziel der Landeszentrale ist es, bis 2030 alle Stolpersteine inklusive der Biografien zu erfassen. In den Bundesländern Schleswig-Holstein und Bremen wird die App bereits verwendet. Gemeinsam mit den anderen Bundesländern und dem IT-Dienstleister Dataport soll die App multimedial weiterentwickelt werden.

„Heute nehmen wir einen neuen Meilenstein in die Erinnerungskultur in MV auf, angefangen in
Schwerin“, so Landesrabbiner Yuriy Kadnykov. „Diese Steine werden sprechen können. Ich bedanke mich bei allen, die dieses Projekt seit Jahren unterstützt und zum Laufen gebracht haben. Ich habe mir bereits die App installiert.“
Die App „Stolpersteine Digital“

…kann unter dem nachfolgenden QR-Code heruntergeladen werden. Die App ist zudem in den gängigen Appstores von Android und Apple erhältlich.

Die Kychenthals
In der Reichspogromnacht 1938 sind 1200 Synagogen niedergebrannt und mindestens 8000 jüdische Geschäfte von Nazis verwüstet worden. Auch in Schwerin. Am Kaufhaus von Louis Kychenthal prangte bald danach eine Aufschrift: „Dieses Geschäft ist in arische Hände übergegangen.“
Am 9. November 1938 hatte NS-Propagandaminister Goebbels dem Judentum die Schuld für die Ermordung des deutschen Diplomaten vom Rath gegeben. Übergriffe auf Juden billigte er ausdrücklich. Noch in der Nacht kam es zu Gewaltexzessen an hunderten Orten. 91 Menschen wurden ermordet, in den folgenden Tagen wurden mehr als 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Verhaftet wurden auch Louis Kychenthal und seine Söhne Ludwig und Willy. Ihr Geschäft am Schweriner Markt war in der Pogromnacht ebenso zerstört worden wie die darüber liegende Wohnung der Familie. In der Haft in Alt-Strelitz stimmte Kychenthal dem Verkauf seines Geschäfts weit unter Wert zu – aus Furcht vor weiterer Gewalt. Außerdem musste er für die Beseitigung der durch die Verwüstung entstandenen Schäden aufkommen.
Kychenthal hatte sein Kaufhaus 1894 eröffnet. Ein Textil-Geschäft für Bekleidung, Wäsche und Aussteuer, Bettfedern und Daunen. Er kaufte zwei angrenzende Immobilien hinzu – am Markt und in der Schusterstraße -, ließ den Hof überdachen und gab 1937 die Erneuerung der Fassade in Auftrag.
Als Warenhaus in jüdischem Besitz jedoch wurde das Kaufhaus bereits ab 1933 von den Nationalsozialisten boykottiert. Kunden, die bei Kychenthal einkauften, wurden in der Rubrik „Am Pranger“ im Niederdeutschen Beobachter namentlich aufgeführt.
Noch im Oktober 1938 wurde der Familie Kychenthal ein Vertrag vorgelegt, nach dem das Geschäft für 140.000 Reichsmark verkauft werden sollte. Die Kychenthals unterschrieben das Papier jedoch nicht.
Nach der Pogromnacht, nach Ausgrenzung und Verfolgung flüchtete die Familie 1939 nach Chile. Zurück blieb Louis Kychenthal. Der damals 75-Jährige wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er 1943 starb.
Nachdem die Erben von Louis Kychenthal die Rückübertragung beantragt hatten, erhielten sie die Häuser 1996 wieder. Anschließend verkauften sie die Immobilien. Am Schweriner Markt erinnern heute Stolpersteine an das Schicksal der Kychenthals.
Hintergrund
Während in Süd- und Westdeutschland schon kurz nach Mitternacht die Schläger ausrückten, um Feuer zu legen, zu plündern und zu zerstören, begann der Pogrom in Mecklenburg erst gegen 5 Uhr morgens. Zuerst – gegen 5:20 Uhr – brannte die Güstrower Synagoge. (…) Um 6 Uhr stand auch die Synagoge in Alt-Strelitz in Flammen. Zur gleichen Zeit drangen Männer in braunen Uniformen in die Synagoge in Teterow ein und verwandelten sie in einen „Trümmerhaufen“. (…) Auch in Schwerin fand die Zerstörung der Geschäfte und der Synagoge in den frühen Morgenstunden des 10. November statt. (…) In Rostock stand die Synagoge gegen 8:30 Uhr in Flammen. An mehr als 60 Orten in der Stadt wüteten die Schlägertrupps der SA. Weitere Infos – hier
Extra
Auf www.kychenthal.de gibt es umfangreiche Hintergründe zum Thema. Autor Matthias Baerens hat die Seite erstellt. Von ihm und Thilo Tautz stammt auch die NDR-Doku „Kychenthals Rückkehr“. Darin begleiten die Journalisten einen Enkel von Louis Kychenthal auf seiner Reise von Chile nach Schwerin. Baerens hatte in den 90er-Jahren eine Studienarbeit über „Arisierung“ geschrieben. In den Akten des Schweriner Stadtarchivs stieß er dabei auf das Schicksal der Kychenthals.
Lesen Sie auch
- Saul Friedländer, Orna Kenan: Das Dritte Reich und die Juden. 1933-1945. München 2010 – hier
- Bernd Kasten: Verfolgung und Deportation der Juden in Mecklenburg 1938-1945. Schwerin 2008 – hier
- Dorothee Freudenberg: Geschichte der jüdischen Gemeinde Stavenhagen 1750-1942. Schwerin 2020 – hier
- Michael Buddrus, Sigrid Fritzlar: Juden in Mecklenburg 1845-1945. Schwerin 2019 – hier