Rostock-Lichtenhagen, August 1992. Es brodelt im Stadtteil. Ankündigungen von Gewalt gegen Asylbewerber in der Zentralen Aufnahmestelle machen die Runde. Ab dem 22. August werden aus Worten Taten. Tagelang. Steine und Brandsätze fliegen. Schaulustige johlen. In der dritten Nacht brennt der Plattenbau. In dieser Woche jährt sich das Pogrom zum 31. Mal.
Das Sonnenblumenhaus
Ein Elfgeschosser in Rostock-Lichtenhagen, einem Stadtteil im Nordwesten der Stadt. „Sonnenblumenhaus“ wird der Plattenbau in den Mecklenburger Allee im Volksmund genannt. Wegen der drei großen, weithin sichtbaren Mosaikblüten an der Seitenfassade.
Hier, in Aufgang Nr. 18, hat seit Ende 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber ihren Sitz. In der Behörde müssen sich alle Asylsuchenden melden, die nach MV kommen. Von hier aus werden sie dann auf Wohnheime im ganzen Land verteilt. Die Asylsuchenden stammen zumeist aus Osteuropa. Viele von ihnen sind Sinti und Roma.
Wer in der zentralen Aufnahmestelle ankommt, soll eigentlich nur wenige Tage hier bleiben. Die Einrichtung ist jedoch heillos überlastet. Die Registrierungen dauern. Die gut 300 Betten reichen hinten und vorne nicht. Viele Flüchtlinge harren draußen, rings um die Aufnahmestelle, aus. Toiletten und Verpflegung gibt es nicht. Anwohner beschweren sich monatelang immer wieder über Dreck, Lärm, Gestank, Diebstähle. Die Stimmung heizt sich mehr und mehr auf. Gewalt liegt in der Luft. Im Fokus der auch in Zeitungsberichten kommunizierten Drohungen: Samstag, der 22. August 1992.
Zum Schauplatz des Pogroms gehört auch Aufgang Nr. 19. Hier wohnen zu jener Zeit ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam. Frauen und Männer, die über ein Abkommen zwischen der DDR und Vietnam in den 1980er-Jahren in die DDR kamen, nach der Wende blieben, seit Jahren hier, im Sonnenblumenhaus, leben. Bis sich der Fremdenhass jener Nächte auch auf sie entlädt, ihr Haus in Flammen setzt, viele von ihnen nur knapp dem Tod entkommen.
Chronologie
Samstag, 22. August 1992
Rund 2000 Menschen versammeln sich am Abend vor dem Sonnenblumenhaus. Steine fliegen, Scheiben klirren. Die, die werfen, werden von Umstehenden angefeuert. Auch die wenigen Polizisten vor Ort werden zur Zielscheibe, warten stundenlang auf Verstärkung. Im Laufe der Nacht sind etwa 160 Polizistinnen und Polizisten vor Ort. Auch Wasserwerfer rollen an. Am frühen Morgen bringen die Einsatzkräfte die Lage unter Kontrolle. Vorerst.
Sonntag, 23. August 1992
Gegen Mittag zieht es erneut Gewaltbereite und Schaulustige zum Sonnenblumenhaus. Bis zum Abend werden es immer mehr. In der Menge sind auch Rechtsextreme aus anderen Bundesländern. Hunderte Personen werfen Steine und Brandflaschen aufs Haus und die Polizei. Die Menge um sie herum schaut zu, klatscht, skandiert rassistische Parolen. Einige Gewaltbereite gelangen in Haus Nummer 19, wüten sich bis in den zweiten Stock vor, ehe sie gestoppt werden. Vor Ort sind Polizisten aus ganz MV, Schleswig-Holstein und Hamburg. Auch der Bundesgrenzschutz ist angerückt. Seit 22.30 Uhr gilt landesweiter Alarm. Gegen 2 Uhr nachts kann die Polizei die Angriffe stoppen. Vorerst.
Montag, 24. August 1992
Gegen 14 Uhr werden alle Flüchtlinge aus der zentralen Aufnahmestelle evakuiert. Das vietnamesische Wohnheim im Nachbarhaus nicht. Obwohl sich längst wieder etliche Menschen davor versammelt haben. Bis zum Abend werden es mehrere Tausend sein. Unter Jubel und rechtsradikalen Parolen der breiten Masse fliegen erneut Steine und Brandsätze. Etliche Polizistinnen und Polizisten werden verletzt. Gegen halb zehn zieht sich die Polizei zurück. Als wenig später die nächsten Molotowcocktails das Haus treffen, Gewalttäter ins Gebäude eindringen und Feuer ausbricht, sind die vietnamesischen Bewohnerinnen und Bewohner auf sich allein gestellt. Die eintreffende Feuerwehr wird ebenfalls attackiert. Mehr als 120 Menschen sind in dem brennenden Gebäude eingeschlossen. Frauen, Männer, Kinder. Von unten dringen Flammen und Rauch nach oben. Die Notausgänge geben nur mit Mühe und in letzter Sekunde den rettenden Weg aufs Dach frei. Die Bilder der Nacht gehen um die Welt. Die vietnamesischen Bewohner/innen werden in Notunterkünfte gebracht.
Dienstag, 25. August 1992
Die Ausschreitungen vor dem Sonnenblumenhaus gehen unvermindert weiter. Einsatzkräfte werden attackiert, Autos angezündet. Die Polizei rückt mit Tränengas und Wasserwerfern an. Tief in der Nacht bekommt sie die Lage unter Kontrolle.
Mittwoch, 26. August 1992
Randalierer, Polizei und Bundesgrenzschutz sind weiter vor Ort. Fast 150 Menschen werden festgenommen. Auch Anwohner versuchen nun, den gewaltbereiten Mob an Ausschreitungen zu hindern. In den folgenden Tagen beteiligen sich tausende Menschen an Schweigemärschen und Demonstrationen gegen Fremdenhass.
Wie ging es weiter?
Im Zuge der Ausschreitungen wurden laut Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses 370 Menschen vorläufig festgenommen und 408 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 292 wegen Landfriedensbruch, in zwei Fällen zusätzlich wegen versuchten Mordes. Insgesamt werden gut 40 Menschen verurteilt. Die letzten Urteile fallen 2002.
Die Bürgerschaft Rostock und der Landtag Schwerin setzen Untersuchungsausschüsse ein. Der Rostocker Bericht kommt zu dem Schluss, dass Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) seiner politischen Verantwortung nicht gerecht geworden sei. Anfang Dezember 1993 tritt er zurück. Lothar Kupfer (CDU) war im Februar 1993 als Innenminister entlassen worden. Der Untersuchungsausschuss des Landtags legte seinen Abschlussbericht Ende 1993 vor. Die SPD schließt sich – ebenso wie die LL/PDS – dem Bericht nicht an, bringt ein eigenes Votum in den Landtag ein.
Seit 2017, dem 25. Jahrestag, erinnern in Rostock Stelen an die Pogrome: Vor dem Sonnenblumenhaus. An der Polizeidirektion Ulmenstraße. Im Rosengarten. Am Verlagshaus der Ostseezeitung. Und am Rathaus. Das Kunstwerk „Gestern Heute Morgen“ der Künstlergruppe SCHAUM ging damals als Siegerentwurf aus einem Kunstwettbewerb der Stadt Rostock hervor. 2018 kam am Doberaner Platz eine weitere Stele hinzu.
Veranstaltungen/Ausstellungen
- „Die Hanse- und Universitätsstadt wird eine Aktion des Jahres 1992 in den Blick nehmen, die zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten ist“, sagt Rostocks Bürgerschaftspräsidentin Regine Lück. „Am 19. Oktober 1992 brachten Mitglieder der Organisation „Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich“ und Mitglieder der Rom und Cinti Union e.V. kurzzeitig eine Gedenktafel am Rostocker Rathaus an. Damit protestierten sie gegen eine kurz zuvor abgeschlossene Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und Rumänien, die es ermöglichte, Geflüchtete auch ohne Papiere, meist Roma, schneller abzuschieben. Zur Erinnerung an diesen Protest wird am 25. August in Anwesenheit von Zeitzeugen eine Tafel eingeweiht.“
- Samstag, 26. August, 11 Uhr, Rathaus Rostock: Bei dieser Veranstaltung sprechen erstmals Zeitzeug/innen in Rostock, die als Geflüchtete im Sonnenblumenhaus angegriffen wurden. Über ihren Weg nach Deutschland, über Lichtenhagen und die Zeit nach dem Pogrom. Veranstalterin u.a.: die Landeszentrale für politische Bildung MV. Weiter
- Die Übersicht mit allen Veranstaltungen – hier
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Rechte Gewalt vor Lichtenhagen
Die Anschläge in Rostock-Lichtenhagen 1992 stehen auch 31 Jahre später bundesweit für einen Höhepunkt an rassistischer Gewalt. Doch es gibt eine Vorgeschichte, die bis heute kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Angriffe auf Migranten und Unterkünfte für Geflüchtete gab es schon zuvor, und zwar flächendeckend. Unser TV-Tipp: „Verharmlost und vergessen – Rechte Gewalt vor Rostock-Lichtenhagen.“ Zu sehen in der ARD-Mediathek.