1964 trat letztmalig während des Kalten Krieges eine gesamtdeutsche Mannschaft bei Olympia an. „Die Realitäten waren bereits ganz andere“, sagt der Filmemacher Thomas Grimm in unserem Interview. „Die Kalten Ringe“ – der Dokumentarfilm über Olympia in Tokio wird am Mittwoch in Schwerin gezeigt.
Weshalb waren die Olympischen Spiele 1964 so besonders?
Thomas Grimm: Die Spiele fanden in einer sehr angespannten politischen Weltlage statt. Zwei Jahre zuvor in der Kubakrise stand die Welt kurz vor einem Atomkrieg. Im August 1964 kam es zum sogenannten Tongking-Zwischenfall vor der Küste Nordvietnams, den die USA als Anlass inszenierten, um den Krieg in Vietnam vom US-Kongress legalisieren zu lassen. Nicht zu vergessen, dass Deutschland seit dem 13. August 1961 durch eine Mauer getrennt war. Die beiden deutschen Staaten hatten sich in ihrem jeweiligen Machtblock separiert.
Trotzdem gab es eine gemeinsame Mannschaft. Welche Idee steckte dahinter?
BRD und DDR sind bereits bei den Spielen 1956 in Melbourne und 1960 in Rom als gemeinsames Team angetreten. Der damalige IOC-Präsident Avery Brundage war von der Idee besessen, dass der Sport die politisch geteilte Welt würde zusammenbringen können. Das geteilte Deutschland sollte das Beispiel dafür sein. Deshalb hielt er so lange an der gesamtdeutschen Mannschaft fest, obwohl die Realitäten bereits ganz andere waren.
Und wie sah die Realität aus?
Wie gesagt, Deutschland war in zwei Staaten aufgeteilt, die dazu unterschiedliche Gesellschaftsmodelle vertraten. Vor allem die DDR kämpfte seit ihrer Gründung 1949 als Teil der Ostblocks um ihre Anerkennung. Die Bundesrepublik war ja der Nachfolgestaat des Dritten Reiches und somit weltweit als das „Deutschland“ bekannt und anerkannt. Über den Sport wollte die DDR sich international einen Namen machen und der damalige Staatschef Walter Ulbricht war ein begeisterter Freizeitsportler. So entwickelte sich in der DDR ein staatlich gefördertes Sportsystem im Gegensatz zum privaten in der Bundesrepublik. Wesentlich war der Abbruch der Sportbeziehungen durch die Bundesregierung nur zwei Tage nach dem Mauerbau 1961. Für eine gemeinsame deutsche Mannschaft war das ein echtes Problem.
Wie konnte man sich fürs Team qualifizieren?
Vereinbart war, dass in Mannschaftssportarten jenes Team nach Tokio fährt, welches in zwei Spielen nach Punkten und Toren besser war. Zum Beispiel im Fußball gewann die DDR 3:0 in Karl-Marx-Stadt und verlor in Hannover 1:2 und war damit der Vertreter Deutschlands in der Qualifikationsrunde für die Teilnahme in Tokio. In den Einzeldisziplinen konnten zum Beispiel im Schwimmen zwei Sportler an den Start gehen. In der Leichtathletik konnten sich bis zu drei Teilnehmer qualifizieren. Für die qualifizierten Sportler wurde eine offizielle Tabelle geführt, denn wer die meisten Teilnehmer stellte, der stellt auch den Chef de Mission, also den Mannschaftsleiter in Tokio. Den wollte die DDR unbedingt erstmalig an der Spitze des Teams haben.
Der Sport wurde zum Spielball der Politik. Worüber wurde gestritten?
Fast über alles. Da gab es in der Außenpolitik der BRD die „Hallstein Doktrin“, die besagte, wenn Drittstaaten die DDR völkerrechtlich anerkennen, dann sei das ein unfreundliche Akt gegenüber Bonn. Darunter fielen dann natürlich auch Sportwettkämpfe in Nato-Ländern, wo DDR-Sportler oftmals nicht antreten durften. Man stritt um die Fahne, die Hymne, die Kleiderordnung und natürlich um Regelauslegungen. Auch darum, ob geflüchtete Sportler aus dem Osten startberechtigt für den Westen sind…
Welches Interview für den Film ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Zwei möchte ich hervorheben. Einmal Karin Balzer (Gold über 80 m Hürden), die uns trotz Krebserkrankung im Endstadium das Interview gab. Sie ist dann leider kurz danach verstorben. Besonders war auch das Interview mit Lothar Claesges, der uns neben seine erfolgreichen Radsportkarriere (Gold im Mannschaftsvierer) auch über seinen tragischesn Unfall zwei Jahre nach Tokio berichtete. Während seines Radtrainings wollte ein Autofahrer unbedingt schnell an eine Telefonzelle heranfahren und übersah den Olympiasieger. Lothar Claesges Verletzungen waren so schwer, dass er von heute auf morgen seine Sportkarriere beenden musste, aber eine neue als Innenausstatter begann. Ein Sportsmann durch und durch.
Und welcher Archivfund hat Sie fasziniert?
Das Filmmaterial von „Tokio Olympiad“ von Kon Ichikawa, einem hervorragenden Dokumentarfilm Regisseur Japans. Der Film wurde auf Eastman Color in 35 mm gedreht. Ichikawa hatte fast 40 Kameras im Einsatz und konnte dadurch einen optisch fantastischen Film schneiden. Wenn man das Material heute sieht, kommt man ins Staunen. Das soll vor fast 60 Jahren gedreht worden sein? Das Filmmaterial liegt im Archiv des IOC, tiefgekühlt im Schweizer Nationalarchiv in Biel.
Am Mittwoch stellen Sie „Die Kalten Ringe“ in Schwerin vor. Wie waren anderswo die Reaktionen auf den Film?
Wir haben den Film wohl schon in knapp 50 Orten in Deutschland aufgeführt und er ist in West wie Ost auf begeisterte Resonanz gestoßen. Sportler, die damals dabei waren, haben uns bestätigt, dass der Film die Atmosphäre jener Ereignisse authentisch wiedergibt.
Hintergrund
Der Dokumentarfilm „Die Kalten Ringe“ erinnert an die geteilte olympische Sportgeschichte während des Kalten Krieges. Gezeigt wird die Doku am 17. Mai, 18:30 Uhr, im Schweriner Schleswig-Holstein-Haus (Puschkinstraße 12).
Zur anschließenden Diskussion sind eingeladen: der Filmemacher Thomas Grimm (Zeitzeugen-TV) und die Schweriner Olympiateilnehmerin von 1964 Gertrud Lohse (Leichtathletik). Moderiert wird die Veranstaltung von Dr. René Wiese (Zentrum deutsche Sportgeschichte). Veranstalterin ist die Landeszentrale für politische Bildung MV.