Der Journalist, Buchautor und Filmemacher Roman Grafe war auf Lesereise in MV und hat u.a. vor Schülerinnen und Schülern in Grevesmühlen sein Buch „Die Schuld der Mitläufer. Anpassen oder Widerstehen in der DDR“ vorgestellt. Geschichtsunterricht mit Post von Wolf Biermann.
Von Roman Grafe
Mitte November war ich, unterstützt von der Landeszentrale für politische Bildung, wieder auf Lesereise in Mecklenburg-Vorpommern. Mit dabei hatte ich das Buch „Die Schuld der Mitläufer. Anpassen oder Widerstehen in der DDR“. Ein Sammelband, den ich 2009 im Pantheon-Verlag herausgegeben hatte. Unter den 22 Autoren ist der Liedermacher Wolf Biermann. Am Vorabend der letzten Lesungen schrieb ich ihm:
„Morgen erzähle ich Schülern einer 11. Klasse des Gymnasiums am Tannenberg in Grevesmühlen von Dir und Deinen Liedern. Die Stasi-Ballade und die Populär-Ballade werde ich ihnen vorspielen. – Am Eingang der Schule ist eine Gedenktafel für den früheren Schüler Arno Esch, der 1951 hingerichtet wurde, weil er der SED im Wege war.“
Kurz vor Mitternacht las ich Wolf Biermanns Antwort: „Ja, Roman, des ermordeten jungen Mannes Arno Esch wird also in Grevesmühlen gedacht, nicht weit von meinem Kaff Gadebusch, wo ich meine ersten DDR-Lektionen erlebte, 1953 bis 1955.
Der blutjunge Jurastudent wollte, daß die LDP in der DDR eine liberale Partei wird … Und konnte offenbar nicht mal ahnen, daß die sogenannten Blockparteien – nur scheinbar absurd – auf Befehl des Großen Bruders von Stalins Kommunisten an blutiger und noch viel kürzerer Leine gehalten wurden als die SED selbst … Sie sollten doch nur als Partei-Attrappen dienen, und besonders da durfte es keine Schwachstelle geben für irgendwelche Freiheits-Illusionen. Fast alle führenden Funktionäre, auch in der NDPD und der BAUERN-PARTEI und der OST-CDU, waren dreifach knallharte stalinistische Kader.
Voilà: Solch ein Satz war also sehr ungesund, denn er kostete das Leben – Arno Esch formulierte sein Todesurteil: Mein Vaterland ist die Freiheit.
Ja, Stasiballade, gewiß, auch die kesse Populärballade; die jungen Deutschen sollten jetzt, am Anfang des Putinschen Weltkrieges ein Lied kennen, das ich 1968 schrieb, und das jetzt im Russischen Krieg gegen die Demokratie in der Ukraine wieder grauenhaft aktuell geworden ist:
Kleines Lied von den bleibenden Werten
Die großen Lügner, und was
Na, was wird bleiben von denen?
– nu was schon, was was was was was:
Daß wir ihnen geglaubt haben!
Die großen Heuchler, und was
Na, was wird bleiben von denen?
– daß wir sie endlich durchschaut haben!
Die großen Führer, und was
Na, was wird bleiben von denen?
– nu was schon, was was was was was:
Daß sie endlich gestürzt wurden!
Und ihre Ewigen Großen Zeiten
Na, was wird bleiben von denen?
– daß sie erheblich gekürzt wurden!
Sie stopfen der Wahrheit das Maul mit Brot
– mit Peitsche und mit Zuckerbrot
– mit Gnaden-Brot und Fladenbrot
Und was wird bleiben vom Brot?
– daß es gegessen wurde!
Und dies zersungene Lied,
Und was wird bleiben vom Lied?
Ewig bleiben wird von meinem Lied
– daß es vergessen wurde.
Dieses Liedchen sang ich meinen Freunden in Ostberlin 1968 wie ein Stück graues Seelenbrot. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Armeen in die ČSSR, als russische Panzer den Prager Frühling plattmachten, war ja auch ich, der gelernte Ermutiger, tief – gefährlich tief – niedergeschlagen. Uns warnte im Schock vor der Verzweiflung die kaltherzliche Anmerkung Brechts zu seinem GALILEI: Den übertriebenen Hoffnungen folgt leicht – die übertriebene Hoffnungslosigkeit.
Wolf am Abend des 17. November 2022“
Am Morgen las ich den Schülern jene Passage aus dem Mitläufer-Buch vor, in der Wolf Biermann beschreibt, was er 1953 – als Sohn eines ermordeten Hamburger Juden und Kommunisten in die DDR geschickt – in seiner neuen Schule in Gadebusch erlebt hatte: Wie sich eine Mitschülerin weigerte („vor den versammelten Schülern und allen Lehrern der Heinrich-Heine-Oberschule und vor dem Bürgermeister und dem Parteisekretär der Mecklenburger Kreisstadt“), sich von ihrem christlichen Glauben und der evangelischen Kirche zu distanzieren.
Ich erzählte vom Berufsverbot des Liedermachers Biermann in der DDR 1965 und von den „Zersetzungsmaßnahmen“ der Stasi gegen ihn. Von der Ausbürgerung Biermanns nach seinem Kölner Konzert im November 1976.
Die Stasi-Ballade und die Populär-Ballade bezeichneten Schüler als „witzig, provokativ, mutig, scheinbar angstfrei“. Beim Lesen von Wolf Biermanns Zeilen für die Schüler vom Vorabend war es so still wie selten in der Schule. Als ich am Ende fragte, was sie aus der Lektion mitnähmen, sagte ein Schüler: „Daß man nicht der Meinung der Masse folgen sollte, sondern selber denken.“
Zur Person
Roman Grafe ist Journalist, Buchautor und Filmemacher. Zu seinen Werken gehört das Buch „Die Grenze durch Deutschland. Eine Chronik von 1945 bis 1990“ (Siedler-Verlag 2002).
Dieses Buch und weitere Publikationen von Roman Grafe gibt es in unserem Webshop:
Landeszentrale für politische Bildung MV: Publikationen
Buchtipp
Natalja Jeske: Arno Esch. Eine Biografie
ISBN 978-3-933255-63-1. Schutzgebühr 10 Euro.
Das Buch ist u.a. erhältlich in der Geschäftsstelle der Landesbeauftragten für MV für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Tel.: 0385-734006, Fax: 0385-734007, Mail: post@lamv.mv-regierung.de