Eindruck vom Leben in der DDR

Vom / Landeskunde, Zeitzeugen

Aus der Online-Schulstunde im Dezember

Online-Stunde mit Stephan Krawczyk und Roman Grafe. Der Dichter und der Autor haben den Schülerinnnen und Schülern des Regionalen Beruflichen Bildungszentrums in Parchim und Ludwigslust vom Leben in der DDR, vom Widerstand und vom Schatten der Mauer berichtet.

Krawczyk zum Beispiel las aus: „Mein bester Freund wohnt auf der anderen Seite“ – die Geschichte einer Ost-West-Jugendfreundschaft in den achtziger Jahren. Grafes Hörstück „Die kurze Lebensgeschichte des Michael Gartenschläger“ erzählte den Jugendlichen vom Widerstand eines jungen Mannes in der DDR, der 1961 wegen seines Protests gegen den Mauerbau zehn Jahre inhaftiert wurde. 1976 wurde Gartenschläger erschossen beim Versuch, zum dritten Mal an der DDR-Grenze einen Selbstschussapparat abzubauen, um den Protest gegen die Todesautomaten zu verstärken.

Die Schüler befragten die beiden Autoren nach ihrem Weg in der DDR sowie nach Hintergründen zu den Hörgeschichten. „Ich habe diese Geschichte geschrieben, weil ich den heutigen jungen Leuten einen Eindruck vom Leben in der DDR vermitteln wollte und dachte, dass gerade das Schicksal von zwei Jugendlichen dazu taugt, Interesse zu wecken“, so Stephan Krawczyk. Roman Grafe sagte auf eine Frage nach der Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und kriminellen Handlungen: „Menschen wie die Geschwister Scholl und Michael Gartenschläger waren keine Kriminellen, sondern Widerstandskämpfer.“

Die Landeszentrale für politische Bildung hat die Online-Stunde unterstützt.

Fragen und Antworten

…aus der Online-Stunde im Dezember 2020 an Roman Grafe.

Zur kurzen Lebensgeschichte des Michael Gartenschläger: Muss kriminelle Energie (Brandstiftung) nicht auch entsprechend bestraft werden?

Strafbar ist nicht „kriminelle Energie“, sondern kriminelles Handeln, wenn es bei der Begehung der Tat laut geltendem Gesetz strafbar gewesen ist. (Paragraph 2 Strafgesetzbuch) Brandstiftung war nach dem in der DDR zur Tatzeit geltenden Reichsstrafgesetzbuch von 1871 strafbar, ebenso in der Bundesrepublik Deutschland. (§ 306) Die freistehende Feldscheune in Wilkendorf diente jedoch nicht als „Wohnung von Menschen“ und auch nicht „zeitweise zum Aufenthalt von Menschen, und zwar zu einer Zeit, während welcher Menschen in derselben sich aufzuhalten pflegen“. Somit hat sich Michael Gartenschläger strafrechtlich nicht der Brandstiftung schuldig gemacht. Verurteilt wurde er allein mittels des politischen Strafrechts der SED-Machthaber.

Hatte Michael Gartenschläger zumindest mit „krimineller Energie“ gehandelt? Hat er also im (auch möglichen) Wortsinn „mit Entschiedenheit eine verbrecherische Handlung durchgesetzt“? Gar „unverantwortlich, schlimm oder rücksichtslos“, wie es in der Duden-Definition des Wortes „kriminell“ heißt?

Das Anzünden einer freistehenden Feldscheune, „um ein Fanal gegen die Mauer durch Berlin zu setzen“, erfüllt jene Kriterien nicht. Im Gegenteil: Verbrecherisch waren Mauerbau und Schießbefehl. Verbrecherisch war es, zur Abschreckung der Bevölkerung einen Schauprozess gegen Jugendliche zu inszenieren und Michael Gartenschläger und seinen Freund Gerd Resag zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Hätte man allein die Sachbeschädigung (§ 303) bestrafen wollen, hätte man eine Geldstrafe verhängen können oder eine Haftstrafe, ausgesetzt zur Bewährung. Doch das war nicht gewollt – im Gegenteil.

Wo liegt Ihres Erachtens die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und kriminellen Handlungen?

Ziviler Ungehorsam verstößt bewusst gegen Rechtsnormen. In diesem Sinn stellt er regelmäßig eine strafbare Handlung dar, die man als „kriminell“ bezeichnen kann. Oft richtet sich ziviler Ungehorsam jedoch gegen Gesetze, die selber als kriminell zu bezeichnen sind. Also gegen „gesetzliches Unrecht“. (Siehe u. a. Rosa Parks und der „Montgomery Bus Boycott“ – USA, 1955.) Gesetzliches Unrecht liegt vor, wenn der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit „ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat“. Diesen Gedanken hatte der Jurist Gustav Radbruch nach dem Ende der Nazi-Diktatur 1946 in der „Süddeutschen Juristen-Zeitung“ veröffentlicht. („Radbruchsche Formel“) Gustav Radbruch ging noch einen Schritt weiter: „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht’, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ Oder, mit den Worten von Otto Dibelius (Bischof von Berlin-Brandenburg und Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland) 1959 in seiner Publikation „Obrigkeit?“: „In einem totalitären Bereich gibt es überhaupt kein Recht. (…) Weder ein Maximum noch ein Minimum, sondern überhaupt kein Recht. (…) Es gibt nur noch eine ,Gesetzlichkeit’, (…) die die Machthaber im Interesse ihrer Macht erlassen.“

Eine solche Gesetzlichkeit nicht anzuerkennen und sich bewusst gegen sie zu stellen, das ist eben nicht kriminell im Sinne von „unverantwortlich, schlimm, rücksichtslos oder verbrecherisch“. Das gilt für die Nürnberger Rassengesetze ebenso wie für den Schießbefehl an der DDR-Westgrenze.
Menschen wie die Geschwister Scholl und Michael Gartenschläger waren keine Kriminellen, sondern Widerstandskämpfer.

Nach welchen Kriterien erfolgte ein Freikauf von Inhaftierten durch die Bundesrepublik Deutschland?

Kriterien waren seitens der Bundesrepublik Deutschland unter anderem der Haftgrund, die (bisherige und absehbar verbleibende) Haftdauer, der Gesundheitszustand des Inhaftierten und seine Familiensituation (minderjährige Kinder etc.). Seitens der SED-Machthaber waren Kriterien neben dem Haftgrund die beabsichtigte abschreckende Wirkung der Inhaftierung, die Höhe der Freikaufsumme und in einigen Fällen Rachegelüste. Ein Hinderungsgrund für einen Freikauf war seitens der SED auch, wenn der Häftling ein „Geheimnisträger“ war, also militärische, wirtschaftliche oder politische Geheimnisse o. ä. kannte. Das Berliner Zeitzeugen-Büro bietet weitere Hintergrund-Informationen unter:
www.zeitzeugenbuero.de.

Wer sich noch genauer über das Thema Häftlingsfreikauf informieren möchte, kann dies mit diesem Buch tun: Ludwig A. Rehlinger: „Freikauf: Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989“ (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011). Der Autor war als bundesdeutscher Ministerialbeamter und Staatssekretär jahrelang direkt mit dem Freikauf befasst.

Sind die Querdenker-Demos nicht auch Opposition gegenüber allgemeinen, öffentlichen Parteimeinungen? Ist Meinungsfreiheit heutzutage gegeben?

Diese Demonstrationen sind ganz offensichtlich Ausdruck von Opposition im Sinne von einer geäußerten gegensätzlichen Einstellung, Ablehnung oder Widerstand. Die Motive der Demonstranten sind bekanntermaßen sehr verschieden. Sie reichen von durchaus nachvollziehbar über skurril bis nicht mehr tolerierbar (rechtsextremistisch). Die Frage zielt ja auch auf einen Vergleich von Widerstand in der (SED-) Diktatur und im heutigen demokratischen Rechtsstaat. – Vergleichen kann man alles. Gleichsetzen nicht.

Die Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie sind offensichtlich ein Versuch, Leben zu schützen. Über Sinn und Erfolg dieser Maßnahmen lässt sich streiten, was landauf, landab seit dem Frühjahr 2020 öffentlich getan wird. Allein ein Blick in die Tageszeitungen genügt, um zu sehen, wie kontrovers diskutiert werden kann und wird. Wer mag, kann das Studium der gelebten Meinungsfreiheit im Bekanntenkreis fortsetzen oder sich anhören, was auf den sogenannten Corona-Demos alles (ungestraft) gesagt werden darf.

Die Schutzmaßnahmen der SED-Machthaber dienten offensichtlich dem Machterhalt der Obrigkeit. Über Sinn und Berechtigung dieser Maßnahmen öffentlich zu streiten, konnte einen schnell ins Gefängnis bringen. Rund eine viertel Million Menschen waren in der DDR aus politischen Gründen eingesperrt.

Es stimmt ja: Macht lädt zum Machtmissbrauch ein. Im Unterschied zur Diktatur ist so etwas in Demokratien aber nicht die staatlich gewollte Regel, sondern die letztlich verfassungswidrige Ausnahme.

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