„Rabbi Wolff. Ein Gentleman vor dem Herrn“ ist ein Dokumentarfilm von Britta Wauer aus dem Jahr 2016. Gezeigt wird der turbulente Alltag des Rabbiners William Wolff, der zwischen London und seinen Gemeinden in Schwerin, Wismar und Rostock pendelt.
Wolff wurde 1927 in Berlin geboren und floh 1933 mit seinen Eltern und Geschwistern vor den Nationalsozialisten nach Amsterdam und von dort sechs Jahre später nach London. Sein Wunsch Rabbiner zu werden, blieb zunächst unerfüllt, da die Familie nach der Flucht nicht genügend Geld besaß, ihm ein Rabbinerseminar zu finanzieren. So entschied sich Wolff nach der Schule für eine Laufbahn als Journalist und begleitete als Parlamentsreporter drei Jahrzehnte lang das politische Weltgeschehen. Seinen alten Traum, Rabbiner zu werden, vergaß er aber nie. Noch mit 53 Jahren begann er eine Ausbildung und erhielt 1984 die Ordination zum Rabbiner. Mit 75 Jahren übernahm er 2002 das Amt des Landesrabbiners von Mecklenburg-Vorpommern.
In MV wurde Wolff zum Brückenbauer zwischen den Religionen, bekam für sein Engagement zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Ehrenbürgerwürde von Schwerin und Rostock.
Am 8. Juli 2020 ist William Wolff im Alter von 93 Jahren gestorben.
„Rabbi Wolff“ ist nicht nur das Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit – eines tief religiösen Menschen, der sich voller Lebensfreude über Konventionen hinwegsetzt. Der Film führt auch auf mitreißende Weise in die Welt des Judentums ein und präsentiert einen ganz besonderen deutschen Lebenslauf.
„Rabbi Wolff. Ein Gentleman vor dem Herrn“, D 2016; Regie, Drehbuch: Britta Wauer, Kamera: Kaspar Köpke, Montage: Berthold Baule, Ton: Felix Heibges, Fotos: Uli Holz, Produktion: Britzka Film – Britta Wauer, Verleih: Salzgeber
„Ich bin kein Flüchtling mehr“
Als Landesrabbiner der Jüdischen Gemeinde in MV hielt William Wolff eine Rede auf der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2005 im Dokumentationszentrum des Landes für die Opfer deutscher Diktaturen. Das Manuskript ist in der LpB-Reihe Schweriner Gespräche erschienen, jedoch vergriffen. Titel: Persönliche Streiflichter auf ein schweres Kapitel. Ein Fundstück.
„Ich empfand die Einladung als eine große Ehre, muss aber auch gestehen: Als ich die Einladung empfing, hatte ich doch meine schweren Bedenken, denn ich dachte, Sie kennen mich jetzt schon zu gut, um einen längeren Vortrag von mir noch über sich ergehen zu lassen. Aber dann erinnerte ich mich an meinen sehr autoritären, wilhelminischen Vater, der von seinen Kindern erwartete, das sie blindlings gehorchten. »Ohne Widerspruch» war sein steter Befehl. So habe ich mich nicht getraut, irgend einen Widerspruch gegen das heutige Vorhaben zu erheben. Stall und Kinderstube bleiben eben doch untrennbare Lebensgefährten.
Ich hatte aber auch Bedenken, weil ich der Naziverfolgung doch aus dem Wege gegangen bin, oder besser gesagt, weil meine Eltern mich beinahe sofort davor entfernt haben, weil sie schon im September 1933 ausgewandert sind. So bin ich kein Überlebender im strengen Sinne wie jemand, der ein KZ überlebt hat. Der große Unterschied zwischen einem ehemaligen Chef und Kollegen und mir war eben, dass er mit 14 Jahren, aus seiner kleinen Stadt in der Slowakei nach Auschwitz abtransportiert wurde. Und zu genau derselben Zeit habe ich auf einer Schulbank in England gesessen, die genau so bequem oder unbequem wie jede deutsche oder sonstige Schulbank war. Aber auf dieser war ich keinerlei Antisemitismus ausgesetzt und schon gar nicht irgend einer Verfolgung. Ich habe so auch nie die Nazi-Vernichtung der Juden zum Hauptthema meines Lebens gemacht. Natürlich ist das alles nicht spurlos an meiner Familie vorbei gegangen, auch in der Emigration nicht. Aber nachdem der Krieg und die Verfolgung vorüber waren, hatte ich nur einen überragenden Wunsch, ein so normales wie mögliches Leben zu genießen, und das ist mir hoffentlich auch in gewissem Maße geglückt. Ich muss Ihnen besonders heute Abend zu meiner großen Schande gestehen, dass ich auch noch nie in Auschwitz war, oder bis ich in den letzten Jahren jeden Mai nach Wöbbelin zur Erinnerungsfeier gehe, auf irgend einem anderen KZ-Areal. Ich war einfach zu feige; ich hatte Angst, es würde mich zu sehr aufregen. Aber ich weiß heute Abend, dass ich doch einmal hin nach Auschwitz muss. Das bin ich den Opfern schuldig.
Schicksal eines europäischen Juden
Und wenn ich heute Abend nun doch über schmerzhafte Themen spreche, dann weil das Thema, das Sie mir gestellt haben, eines der schmerzhaftesten in der menschlichen Geschichte ist. Das Schicksal eines europäischen Juden im 20. Jahrhundert, auch wenn er nicht im Lager war, konnte ja nicht völlig schmerzlos sein. Wenn ich nun darüber spreche, dann tue ich dass in der Beruhigung, dass Sie, die Sie mich kennen und wissen, dass ich kein trauriger oder unglücklicher Mensch bin und hoffentlich auch kein Mensch, der sich nicht mit seinem Schicksal versöhnen kann oder eine Schicksalsschuld auf andere abschiebt. Ganz im Gegenteil, ich habe jetzt Freude an meinem Leben. Das ist das große Geschenk dieser letzten oder vorletzten Phase meines Lebens — man kann ja Gott sei Dank nur nachher wissen, ob etwas die letzte Phase war, wenn wir uns überhaupt im besseren Jenseits mit solchen Trivialitäten beschäftigen — und diese theologische Frage werden sie mir heute Abend erlauben, beiseite zu lassen. Ich habe jetzt besonders Freude an meinem Leben hier bei Ihnen. Und bin ich auch Ihnen zu Dank verpflichtet.
Ich weiß, dass die Diskussion über das Thema des heutigen Abends hierzulande eine lange Zeit von Vorsicht, Vorbehalten und Tabus umrahmt war, und das war auch vielleicht zu gewisser Zeit geboten. Aber eines der Bücher, die mich lebenslang geprägt haben und dessen Lehre ich noch mit ins Grab hinein nehmen werde — man sagt einem immer, dass wir ohne jeglichen Besitz auf die Welt kommen und ohne jeglichen Besitz diese Welt wieder verlassen. Aber das stimmt ja nicht ganz. Unseren geistigen Besitz nehmen wir mit, wenigstens nehme ich meinen mit. Und sollte Petrus oder der Erzengel Michael oder wer auch immer die Pass und Zollkontrolle dort übernimmt, etwas dagegen haben, dann bleibe ich eben noch ein bisschen länger hier bei Ihnen. Denn ich bin zutiefst geprägt von einem Buch des englischen Philosophen John Stuart Mill, das ich als Student gelesen und nie wieder losgelassen habe. In seinem Buch »On Liberty», »Über die Freiheit», sagt er, dass Tatsachen sich nie aus dem Weg räumen lassen. Man kann sie verneinen, aber das ändert sie so wenig wie die Heizung hier im Raum die Kälte vor der Tür ändert. Und keine Zensur kann irgend eine Idee töten. Nur andere Ideen können eine Idee klären, modifizieren oder widerlegen. Ehe ich aber gewisse Fragen erörtere, die meines Erachtens unsere gemeinsame Geschichte weiterhin an uns stellt, weil wir noch keine zufriedenstellenden Antworten gefunden haben, möchte ich schnell drei Feststellungen, die in der Vergangenheit jede Diskussion dieser Themen überschattet und zeitweilig sehr erschwert haben, heute Abend wegräumen. Denn sie gehören nicht mehr in die Diskussion, sie brauchen uns nicht mehr zu bekümmern.
Die Beweise sind überall
Das erste ist die Verneinung der Vernichtung, die sowieso immer nur in den winzigsten Kreisen Mode war, aber eine vernünftige Diskussion dieser schmerzhaften Themen erschwert hat. Das braucht uns heute keine Sorgen mehr zu machen. Denn diese Verfolgung und Vernichtung sind nun einmal ein Teil unserer Geschichte, und das wird von jedem nur halbwegs vernünftigen Menschen anerkannt. Zu viele von uns, von uns allen, nicht nur Juden, tragen Narben oder noch offene Wunden davon. Die Beweise sind überall, hier in der Gegend in Raben Steinfeld, in Wöbbelin, in Neustadt-Glewe, vor meiner Haustür, auf dem Hinterhof meiner Wohnung — ich werde Sie nicht weiter damit anöden. Diese Geschichte zu verneinen, ist genau so glaubwürdig als zu sagen, dass Friedrich der Zweite, der Große, nie seinen Fußabdruck in Schlesien hinterlassen hat, und dass Feldmarschall Blücher am 18. Juni 1815 zu Hause mit seiner Frau Geburtstag gefeiert hat und von der Schlacht in Waterloo an diesem Tage, der endlich die Abenteuer Napoleons beendete, erst Tage später in Zeitungsberichten erfahren hat. Solcher Unsinn braucht uns kein Moment mehr zu beschäftigen.
Was zweitens jede Diskussion der Vernichtungsereignisse weiter erschwert und manchmal verhindert, dass sie vielleicht doch in hilfreicher Weise neu beleuchtet werden, ist die Furcht vor Vergleichen mit anderen Verfolgungsepisoden oder Menschenvernichtungen. Solche Vergleiche werden mit dem Wort »Relativierung» abgewinkt. Denn Relativierung bedeutet danach »Verharmlosung.»
Vergleiche heben hervor
Das scheint mir auch ein unnötiges Befürchten zu sein. Vergleiche ziehen gehört zum menschlichen Denken. Es ist ein untrennbarer Bestandteil des menschlichen Denkens. Es gibt kein menschliches Lernen oder Denken, ohne Vergleiche zu ziehen. Vergleiche sind möglicherweise der produktivste Bestandteil des menschlichen Denkens. Es gibt keine Wissenschaft ohne Vergleiche, wir hätten nie von Albert Einstein gehört, wenn er nicht Vergleiche gezogen hätte, an die niemand zuvor gedacht hatte oder sich an sie heran gewagt hatte.
So auch in der Betrachtung und dem Studium der Nazi-Ausrottung der Juden, der Schwulen, der Sinti und Roma und anderen. Wir haben nichts von Vergleichen zu fürchten. Denn jeder Vergleich kann nur natürlich gemeinsame Züge und Aspekte mit anderen Verfolgungen und Vernichtungen hervorheben. Aber jeder Vergleich kann auch immer nur wieder das Einzigartige bei dieser Vernichtung hervorheben. Weder im Gulag, noch in Bosnien, Serbien oder Kroatien, weder in Armenien am Ende des Ersten Weltkrieges, noch unter Hutu und Tutsi in Afrika hat es jemals Gaskammern gegeben. Die gab es nur in Auschwitz und mehreren anderen Nazi-Vernichtungslagern. Die bleiben einzigartig. Und wie gesagt, Vergleiche können diesen Aspekt nur hervorheben.
So haben wir von Vergleichen nichts zu fürchten, und können von ihnen nur neue Einblicke und neues Verständnis erwarten und gewinnen. Vergleiche sind nicht nur das intellektuelle Erbe, sondern eines der Hauptwerkzeuge der menschlichen Kultur. Und sie sind mit dem Wort »Relativierung» nicht aus dem Weg zu räumen.
Der 10. September des Jahres 1952
Und drittens bestand jahrelang die Furcht, dieses Kapitel der Geschichte könnte sich noch einmal wiederholen. Und von diesem Befürchten können wir uns nun auch endgültig verabschieden. Es besteht in dieser Bundesrepublik nicht die geringste Gefahr einer Wiederholung. Und wenn Sie diese Behauptung als zu gewagt oder optimistisch anstatt als eine nüchterne Einschätzung von historischen Tatsachen betrachten, dann bitte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine ganz einfache Tatsache zu richten. Auf die Tatsache, dass die deutsche Geschichte weder am 27. Januar 1945 noch am 8. Mai 1945 mit der Unterzeichnung der Kapitulation durch Wilhelm Keitel zu Ende kam. Wir sind heute Abend hier, weil seitdem 60 Jahre wie Rhein, Elbe und Oder vorbei geflossen sind, 60 Jahre, die nicht weniger ereignisvoll waren und vielleicht noch viel mehr als zwei dreißigjährige Kriege oder irgend ein anderes Zeitalter in unserer Geschichte.
Und das für mich überragende Datum in diesen 60 Jahren, an dem wir festhalten sollten so wie am 27. Januar und so wie am 8. Mai, ist der 10. September des Jahres 1952. Es ist in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands nicht weniger bedeutend als der 23. Mai 1949, an dem das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, oder der 9. November 1989, an dem die Berliner Schreckensmauer endlich geöffnet wurde. Also kommen sie bitte mit mir mit an diesem Frühherbsttag im Jahre 1952 in das Rathaus in Luxemburg. Und obwohl dieses Rathaus in der deutschen Geschichte nun ewige Bedeutung hat, hat es bis heute nicht die Schönheit so vieler deutscher Rathäuser, so wie ich es neulich in Hildesheim, der Geburtstadt meines Vaters sah, so wie ich es jedes Mal, wenn ich in Rostock bin, bewundere sowie in Lübeck und unzähligen anderen deutschen Städte. Trotzdem kommen sie mit, schon um 8 Uhr früh. Da öffneten sich die Türen eines der Zeremonialsäle dieses Rathauses. Durch die Tür kam Konrad Adenauer, der Kanzler der neuen deutschen Bundesrepublik, und durch die andere Tür kam Mosche Scharet, mit Geburtsnamen Mosche Schertok, der Außenminister des nur etwas älteren Staates Israel. Adenauer ging auf Scharet mit ausgestreckter Hand zu und sagte und ich zitiere: »Ich habe diesem Tag in Erwartung und mit Freude entgegengesehen. »Und Scharet erwidert auf Deutsch und ich unterstreiche auf Deutsch-, und Herr Köhler kann ja, wenn er es möchte, in Jerusalem daran erinnern: Scharet sagte auf Deutsch: »Auch für uns ist es ein besonderer und bedeutsamer Tag.» Das war von beiden vielleicht eine kleine Untertreibung. Denn sie setzten sich sofort hin und unterschrieben einen Vertrag, den ersten Staatsakt der neuen Bundesrepublik, in dem Adenauer volle Verantwortung für die Vernichtung der Juden durch das Naziregime für sein neues, junges und in dem Moment noch schwaches Land übernahm, moralisch und finanziell. Es dauerte genau 13 Minuten. Dann verschwanden die beiden wieder aus dem Luxemburger Rathaus. Aber wegen dieser Tat allein betrachte ich Adenauer als einen der Riesen, nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte. Er hat bestimmt andere Riesentaten vollbracht.
Meines Erachtens darf man ihn gerecht mit den beiden Karls, dem Großen und dem Fünften vergleichen, mit Friedrich dem Großen und dem anderen Riesen, Otto von Bismarck. Und vielleicht war er moralisch noch größer als irgend einer von diesen.
Verantwortung allgemein angenommen
Wie gesagt, die Unterzeichnung an diesem frühen Morgen — sie wurde im vorhinein Geheim gehalten, denn man hatte Angst vor Attentaten – hat bis heute finanzielle Konsequenzen. Bis zum heutigen Datum hat die Bundesrepublik eine Mindestzahl von 45 Milliarden Euro in Wiedergutmachungszahlungen überreicht. Und ich stimme mit Frau Thatcher überein, als sie einmal feststellte, dass keine Regierung über eigene Mittel verfügt, dass jeder Cent aus Regierungskassen zuerst von den Steuerzahlern des Landes kassiert wird.
Ich unterstreiche die Größe Adenauers nochmals, denn er unternahm diese Tat zu einem Zeitpunkt, als sich Deutschland noch nicht völlig von dem Antisemitismus der Nazi-Jahre, und bestimmt der Jahre die dahin führten, erholt hatte. Aber bald hat sich die Einstellung Adenauers unter dem Volk mehr und mehr verbreitet. Und heute, mit kaum beachtenswerten Ausnahmen, ist diese Verantwortung allgemein angenommen.
Jeder von uns weiß aus seinem eigenen Leben, dass jedes Schuldbekenntnis der Überwindung bedarf und mit dieser Überwindung auch einer gewissen moralischen Größe. Verzeihen Sie mir, wenn ich ihnen ein kleines persönliches Beispiel gebe. Mir wurde vor zwei oder drei Monaten von einer Kollegin gesagt, ich hätte eine andere Kollegin bei einer gemeinsamen Trauungszeremonie verletzt. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen, und hatte es nicht beabsichtigt. Aber je mehr ich an diese Trauung zurück dachte, desto mehr wurde ich mir klar, dass ich an dem Tag und besonders bei diesem Gottesdienst aus verschiedenen Gründen nervös und gereizt war. Und obwohl ich nichts beabsichtigt hatte, wenn sie sich verletzt gefühlt hatte, so war ich schließlich daran schuld. Ich kann ihnen kaum beichten, wie lange es gedauert hat, bis ich ihr einen genügenden Entschuldigungsbrief geschickt habe. Ich hab es nun endlich getan, und sie hat ihn in großzügiger Weise akzeptiert. Aber es ist nie leicht zu sagen: Ich habe, wir haben Schuld. Es ist um so schwerer, wenn zuerst unsere Eltern und Großeltern in der Schuld persönlich manchmal oder oftmals verwickelt waren. Für manche ältere Menschen ist es bis heute noch ein Faktor. Einen Abend im letzten Sommer kam ein evangelischer Kollege aus der Nachbarschaft zu mir, um die Einzelheiten einer gemeinsamen Feier zu regeln. Obwohl wir uns gut verstehen, hat das Gespräch länger gedauert als geplant. Und um 21 Uhr hatten wir beide noch nicht Abendbrot gegessen. So haben wir uns draußen bei der Altschweriner Schankstube hingesetzt. Und bei unserem Imbiss erzählte er mir etwas von seiner Familiengeschichte.
Einsicht gibt uns Kraft
Sein Vater hatte im Krieg gedient, aber war wegen Kriegsverwundung früh entlassen worden, und wurde dann nach Riga geschickt, um die Ländereien und die Wälder um die Stadt herum zu verwalten. Und plötzlich sagte er zu mir: Ich frage mich bis heute noch, was hat mein Vater davon gewusst, dass Hunderte Transporte aus Berlin und anderen deutschen Städten nach Riga kamen, und die Juden in die Wälder gefahren oder getrieben wurden und dort in vorher vorbereiteten Gräben erschossen wurden. Hat er die Gräber im vorhinein anfertigen lassen? Das sind die unbeantworteten Fragen, die ältere Menschen noch mit sich herumschleppen. Das sind Schmerzen und Verletzungen, die viele mit sich in ihr eigenes Grab mitnehmen werden. Und das macht die bedingungslose Annahme der Verantwortung — einer Verantwortung ohne jegliche persönliche Schuld, das müssen wir auch verstehen — zu einer moralischen Errungenschaft, die genau so einzigartig ist wie das vorhergehende Verbrechen. Aber diese moralische Größe, und es ist eine moralische Größe, bedarf heute der Anerkennung, nicht zuletzt von Deutschen selbst. Ich werde sie nicht langweilen, indem ich Ihnen weiter erzähle von den vielen Schulklassen, die sich mit dem Thema befassen, unter Leitung von Lehrerinnen und Lehrern, die erloschene jüdische Geschichte in ihren Dörfern und Städten aufzuarbeiten. Es waren vor einigen Monaten tief eindrucksvolle Beispiele im Schloss zu sehen.
All das gibt mir die völlige Zuversicht, dass es hier zu Lande niemals, aber auch niemals zu einer Wiederholung kommen kann, und die Überzeugung, ich hoffe mehr bescheiden als arrogant, dass dies keine romantische Illusion meinerseits ist. Ich weiß, dass Alter nicht vor romantischen Illusionen schützt, aber in diesem Falle handelt es sich, hoffe ich, nochmals um eine nüchterne Einschätzung des moralisch nicht leichten, oftmals sehr schweren und daher doch innerlich mutigen Weges, welchen die deutsche Gesellschaft in den letzten 50 Jahren in Hinsicht auf dieses Kapitel eingeschlagen hat. Und das gibt dieser deutschen Gesellschaft, und das bedeutet Ihnen, die hier heute Abend anwesend sind, ein Anrecht auf mehr Selbstvertrauen, als sie es manchmal fühlt oder zeigt. Dieses Selbstvertrauen hat sich diese neue deutsche Gesellschaft, haben Sie sich verdient.
Das muss an diesem Jahrestag auch gesagt werden. Die deutsche Geschichte ist nicht am 27. Januar 1945 zu einem Stillstand gekommen.
Dieses Selbstvertrauen brauchen wir, um Kraft zu schöpfen, doch noch tiefer in diesem schmerzhaften Kapitel unserer Geschichte herumzubohren. Alle Geschichte ist da, alle menschlichen Erfahrungen sind da — und Geschichte ist ja schließlich nichts anderes als menschliche Erfahrung, um uns mit ihren Lehren zu bereichern. Einsicht gibt uns Kraft, besonders Einsicht in die schmerzhafteste der menschlichen Erfahrungen.
So möchte ich nur auf zwei Fragen hinweisen, die aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts hervorgehen, auf die wir Antwort benötigen, damit wir und unsere Kinder möglichen zukünftigen Herausforderungen besser gerecht werden. Auf die wir aber bis jetzt noch keine genügenden Antworten bekommen haben.
Wir stoßen auf Schattenseiten
Die erste und etwas leichtere Frage ist, ob es überhaupt möglich ist, dass eine Diktatur von innen gestürzt werden kann. Die Frage bleibt, denn der Nationalsozialismus ist von außen gestürzt worden, und der Kommunismus ist nicht gestürzt, sondern zusammengeklappt wie ein Gebäude, dessen Grundstock und Rahmen nicht stark genug waren, um die Stockwerke der Gesellschaft zu tragen. Der Mut von Vaclav Havel, von Lech Walesa, von Andrej Sacharov, hierzulande von Martin Niemöller, Dietrich Bonhöfer, Attentätern des 20. Juli, von stillen Heldinnen wie Gerda Voss aus diesem Bundesland, von Heldinnen und Helden des Widerstands gegen Nazismus und Kommunismus ist demütigend und inspirierend. Wir gedenken ihrer ständig mit tiefer Ehre. Aber ist Mut alleine genug, um eine Diktatur zu besiegen, wenn Mut immer im Konflikt steht mit den Verpflichtungen, die Menschen gegenüber ihren Familien, ihren Kindern und Ehepartner haben? Ich habe noch keine Antwort darauf gelesen, und irgendwann bedarf es einer Antwort. Vielleicht ist es sogar noch zu früh, um eine definitive Antwort zu geben. Die Ukraine hat in den letzten sechs Wochen ein neues Kapitel in dieser Geschichte geschrieben, und ein weiteres wartet auf das chinesische Volk.
Und dann werden wir ja immer wieder mit der quälenden Frage konfrontiert, wie es überhaupt möglich war, dass so etwas in diesem Land passierte, mit diesem Volk, ein Volk, in dem so sehr viel Güte steckt. Und nochmals wehre ich mich gegen einen möglichen Vorwurf der romantischen Illusion. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Güte beobachtet und erwiesen bekommen als in den letzten drei Jahren hier in Deutschland. Und das macht die Frage um so quälender und um so komplizierter. Zu behaupten, so wie in dem Goldhagen-Buch vor ungefähr fünf Jahren, dass jeder hierzulande mitgemacht hat, ist so dumm und unhistorisch wie zu behaupten, dass die Vernichtung nie stattgefunden hat. Es war viel viel schwieriger, viel viel differenzierter. Es gab Menschen, die von nichts gewusst haben, es gab Menschen, die Vermutungen hatten und nichts weiteres unternommen haben, und da sind wir wieder konfrontiert mit dem Problem, wie weit Widerstand möglich ist. Und es gab natürlich auch Menschen, die mitgemacht haben. Wir können diese Kategorien nicht beziffern, und es gab auch noch viele Schattierungen zwischen ihnen. Um anzufangen, objektive Antworten zu erforschen, brauchen wir viel Mut und viel innere Kraft. Denn wir stoßen dort auf Schattenseiten des menschlichen Wesens, die für uns alle heikel und äußerst schmerzhaft sind. Es bewegt mich heute Abend um so mehr wegen der Berichte in der letzten Woche aus einem englischen Militärgericht in Osnabrück über unmenschliches Verhalten von englischen Soldaten im Irak.
Wie ist das möglich?
Übermorgen treffe ich mich mit einem alten Kollegen, der mir seit mehr als dreißig Jahren treu geblieben ist. In den paar Jahren, in denen ich eine Abteilung an meiner Zeitung leitete, habe ich ihn aus der Provinz nach London geholt und er hat dann bei uns Karriere gemacht. Ich habe aber auch seine junge Familie gut kennen gelernt. Seine Kinder haben bei mir im Garten gespielt, wenn die Eltern mal sonnabends oder sonntags zum Mittag kamen. Sie haben einen Sohn, der zu einem passionierten Golfspieler herangewachsen ist und sich in Golfclubs seinen Lebensunterhalt verdient. Aber es hätte ja auch sein können, dass er oder irgend eines der Kinder von meinen Freunden, mit denen ich in ihrer Kindheit und Jugend eng verbunden war und manchmal dies noch bis heute bin, eine Laufbahn im englischen Heer gesucht hätte. Und wenn sich das so erwiesen hätte, und warum denn nicht, dann könnte der eine oder der andere heute in Osnabrück vor Gericht stehen. Wie ist das möglich? Das ist die Frage, die mich heute Abend ganz persönlich quält. Denn unsere menschlichen Schwächen stellen diese Frage immer und immer wieder. Und da können Vergleiche von einem Fall zum anderen, von einer historischen Situation zur anderen diese Frage beleuchten und uns vielleicht helfen, in Zukunft so etwas zu vermeiden. Und Vergleiche, so sagte ich schon, bringen mehr Wahrheit, aber keine Entschuldigung und keine Verringerung des Verbrechens. Aber bis wir diese Frage des Guten und des Bösen im selben Menschen in voller Tiefe stellen, an die wir uns bis jetzt noch nicht heran gewagt haben, kann die Menschheit keine weiteren großen moralischen Fortschritte machen. Aber wenn wir einmal den Mut haben, sie zu erörtern, dann wäre einer der größten Schritte der ganzen menschlichen Geschichte plötzlich in unserem Vermögen.
Im Vergleich mit diesen Fragen, so historisch und so aktuell, schwinden meine persönlichen Erfahrungen als Flüchtling in den Hintergrund. Das wurde mir völlig vor mehr als dreißig Jahren klar, als ich mal kürzere Zeit für Außenpolitik bei meiner Zeitung beauftragt war und ein neuer junger Diplomat in das Pressereferat der deutschen Botschaft kam. Ich hatte damals gute persönliche Beziehungen zum Chef des Referats, auch zum damaligen Botschafter. Man sagte mir eines Tages, kümmere dich einmal um den Jüngling. So saßen wir zum Mittag an der Themse und ich befragte ihn über seine Ausbildung als Jurist und was denn sein Vater von Beruf sei. Nationalökonom, sagte er mir. Das interessierte mich, denn es war auch eines meiner Fächer, als ich das erste Mal Student war. Na wo ist er denn jetzt, fragte ich und wollte gerne wissen, wo er eventuell eine Professur hatte. Er lebt nicht mehr, sagte er mir. Er wurde nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. (Professor Jens Peter Jessen, im November 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet) Und ich sagte mir, dann brauchst Du ihm gar nichts weiter über deine Familiengeschichte zu erzählen.
Wurzeln lassen sich nicht wegfegen
Nun, zum Schluss, doch noch etwas ganz Persönliches sowie ganz Allgemeines: Unsere Wurzeln und unserer Vergangenheit lassen sich nie einfach vom Wege fegen. Dafür gibt es keinen Besen. So habe ich beinahe in dem Moment, als ich vor drei Jahren nach Deutschland zurückkam, eine innere Vollkommenheit erlebt, die ich nie zuvor kannte. Denn irgend wie, irgend wo blieb ich doch, nicht ein Außenseiter, ein Outsider, dafür bin ich mit meinen Freunden zu eng verbunden und ich glaube auch nicht, dass sie mich als solchen betrachten, aber in der Tiefe meiner Seele bin ich immer der Zuwanderer geblieben, immer das Flüchtlingskind, auch in englisch-jüdischen Kreisen. Und ich bin mir heute bewusst, dass dies immer eine seelische Last war, die, obwohl unmessbar auf einer Waage, doch manchmal viel schwerer zu tragen war als irgendein Koffer, für den die Lufthansa Übergewichtsgebühren verlangt. Diese Last ist nun völlig von mir gehoben. Ich bin kein Flüchtling mehr. Ich gehöre wieder irgendwo von Geburt an hin. Und die Gelegenheit, die Sie mir heute Abend geboten haben, über heikle Fragen unserer gemeinsamen Geschichte frei, offen, ohne Hemmungen und im vertrauten Kreise zu sprechen, war mir dann doch nicht nur willkommen, sondern hat sich auch als eine weitere Heilung erwiesen.
Für diese Gelegenheit, für diese weitere Heilung, bedanke ich mich bei Ihnen mit ganzem Herzen. Ich bedanke mich bei Ihnen, die heute Abend hergekommen sind — trotz der Tatsache, dass Sie mich schon gut kennen, und dass es außerdem bestimmt Interessanteres im Fernsehen gab — ich bedanke mich bei Ihnen für die Anregung Ihrer Anwesenheit und das Geschenk ihrer lieben Aufmerksamkeit.“
Buchtipp
Abraham war Optimist. Über ein Jahr lang begleitete Manuela Koska den Rabbiner William Wolff mit der Kamera. Ihr gelang eine einfühlsame und anspruchsvolle Bildreportage über menschliche Wahrheiten und jüdische Identität im heutigen Deutschland, begleitet von Briefen eines Weisen, eines weltoffenen Rabbiners, der mit einzigartigem Charisma beeindruckt, und von Texten eines jungen Juden, der einen Monat nach der deutschen Wiedervereinigung geboren wurde, sowie Portraits Schweriner jüdischer Gemeindemitglieder, die jeweils für sich selbst sprechen.
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