Abgetaucht in Neubrandenburg

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Silke Maier-Witt

„RAF im Osten. Terroristen unter dem Schutz der Stasi.“ So heißt das Buch von Frank Wilhelm. Im Mittelpunkt darin: Wie Silke Maier-Witt in Neubrandenburg abtauchen konnte. Hier ein Auszug.


Silke Maier-Witt war am Morgen des 18. Juni 1990 mit dem Dienstwagen und einem Fahrer unterwegs nach Berlin, um eine schwedische Delegation abzuholen, die den VEB Pharma in Neubrandenburg besichtigen wollte. Im Radio lief die Meldung von der Festnahme der Ex-RAF-Terroristen Sternebeck und Friedrich, Maier-Witts ehemaliger Kampfgefährten, in Schwedt. „Mal sehen, wen sie als nächstes erwischen“, erinnert sich Maier Witt fast 30 Jahre später an den Kommentar ihres Fahrers.

Als es sie wenige Stunden später selbst erwischte, staunten ihre Kollegen nicht schlecht. Die allseits anerkannte Mitarbeiterin „Sylvia Beyer“ dolmetschte gerade für die Schweden, als ein Polizeikommando anrückte. Die Beamten zückten ihre Ausweise und nahmen die 40-Jährige fest, die unter ihrem richtigen Namen seit 13 Jahren in der BRD gesucht wurde. Nachdem das zentrale Kriminalamt der DDR in den Tagen zuvor bereits acht RAF-Aussteiger festgesetzt hatte, schlugen die Ermittler auch in der Viertorestadt zu. In der Bezirksstadt lebten die letzten der zehn gesuchten Ex-Terroristen, die dank des MfS in der DDR unterschlüpfen konnten: Silke Maier-Witt und Henning Beer.

Das Fahndungsfoto des Bundeskriminalamtes aus dem Jahr 1977 zeigt Susanne Albrecht und Silke Maier-Witt (r.).

Maier-Witt musste seit ihrer Ankunft in der DDR 1980 mehrfach ihren Wohnort und die Arbeitsstelle wechseln, weil die Enttarnung drohte. Nachdem sie 1986 beinahe in Erfurt aufgeflogen war, hatte das MfS erwogen, Silke Maier-Witt in einer Stadt in den Bezirken Schwerin oder Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) unterzubringen. Dann fiel die Wahl aber doch auf die Bezirksstadt Neubrandenburg, wo seit 1982 bereits der abgetauchte RAF-Mann Henning Beer alias „Dieter Lenz“ wohnte.

Warum das MfS zwei RAF-Kämpfer, die nicht miteinander liiert waren, in einer Stadt beherbergte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Jedenfalls war es ein Novum. Grundsätzlich war das MfS jedenfalls nicht an unkontrollierten Kontaktaufnahmen zwischen den RAF-Aussteigern in der DDR interessiert.

Im Oktober 1987 kam Silke Maier-Witt unter ihrem neuen Namen „Sylvia Beyer“ in Neubrandenburg an. Sie wechselte nicht nur den Namen, sondern auch die Legende. Entsprechend ihres neuen erfundenen Lebenslaufes wurde sie als „Sylvia Gersbach“ am 18. Oktober 1948 in Moskau geboren. Damit westdeutsche Fahnder zwischen „Angelika Gerlach“ aus Erfurt, dem ersten Aliasnamen Maier-Witts, und „Sylvia Beyer“ aus Neubrandenburg keine Verbindung herstellen können, war es der Stasi-Abteilung XXII/8 offensichtlich wichtig, dass sie künftig als „DDR-Bürger ohne BRD-Bezug“ auftrat.

Neubrandenburger Oststadt. Im 4. Stock dieses Plattenbaus bekam „Sylvia Beyer“ eine Zwei-Raum-Wohnung.

Bei der Suche nach einer Wohnung, die damals bekanntermaßen knapp waren, half wieder das MfS. Sie bekam eine Wohnung in der Neubrandenburger Oststadt, einer Plattenbausiedlung. Und auch ein neuer Arbeitsplatz war schnell gefunden: „Seit Oktober 1987 ist der IMS ’Anja Weber‘ mit neuer Identität als DDR-Bürger ohne BRD-Bezug als Leiter des Dokumentationszentrums im VEB Pharma Neubrandenburg tätig.“

Das Werk war ideal für die Unterbringung der damals 37-Jährigen, deren Vergangenheit – sowohl die westdeutsche bis 1980 als auch die Erfurter – unbedingt verschleiert werden musste. Der Volkseigene Betrieb (VEB) Pharma im Neubrandenburger Industriegebiet Weitin wurde gerade aufgebaut. „Er sollte – so der Plan – der modernste Arzneimittelhersteller der DDR werden“, erinnert sich der ehemalige Betriebsdirektor Dr. Peter Wickhusen. Ende der 80er Jahre arbeiteten rund 1000 Menschen in dem Betrieb. Mitte der 80er Jahre, als Maier-Witt nach Neubrandenburg kam, wurden regelmäßig Mitarbeiter eingestellt. Da fiel eine neue Kollegin namens „Sylvia Beyer“ nicht groß auf.

Stasi hatte das Feld gut vorbereitet

Die Stasi hatte das Feld in der neuen Heimatstadt der Ex-Terroristin allerdings auch gut vorbereitet. Eine nochmalige Panne wie in Erfurt sollte vermieden werden. „Zur weiteren Aufklärung des Umgangskreises, der Verhaltens- und Auftretensweisen des IMS ’Anja Weber‘ sowie zum rechtzeitigen Erkennen sicherheitsgefährdender Momente“ wurden etliche Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Bezirksverwaltung (BV) Neubrandenburg instruiert. Dabei konnte die Terrorabwehr auf die Unterstützung der Abteilung XVIII (Volkswirtschaft) der BV bauen. So wurden die IMS „Peter Neumann“, „Hartmut Becker“, „Herbert“, „Kurt Krause“ und „Helmut Weiß“ beauftragt, Informationen aus dem Freizeit-, Wohn- und Arbeitsbereich von „Sylvia Beyer“ zu liefern.

Bei „Helmut Weiß“ handelte es sich um den bereits erwähnten Betriebsdirektor von Pharma, Peter Wickhausen. Er war 1975 durch die Bezirksverwaltung Gera als IM geworben worden. Seinerzeit hatte er eine Leitungsposition im Kombinat Jenapharm in Thüringen inne. „Bei dem IM handelt es sich um einen klassenbewussten Genossen, der die ihm übertragenen Aufgaben in seine Führungs- und Leitungstätigkeit einordnete“, heißt es in einer Beurteilung der MfS-Kreisdienststelle Neubrandenburg, die den IM seit Anfang der 80er Jahre aufgrund seines Umzugs nach Neubrandenburg führte.

Zufrieden mit der Einarbeitung

Mit der Übernahme der Funktion des Direktors von Pharma Neubrandenburg sollte der IMS zum Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit (GMS) umregistriert werden. Bei den GMS handelte es sich in der Regel um Funktionsträger, die in Schlüsselpositionen wie Betriebsdirektor oder Kaderleiter tätig waren. Sie sollten von Amts wegen mit dem MfS zusammenarbeiten, was sie in der Regel auch taten.

Bei der Einarbeitung von „Sylvia Beyer“ in seinen Betrieb funktionierte GMS „Helmut Weiß“ wohl zur Zufriedenheit der KD Neubrandenburg. So habe er bei „der Eingliederung/Absicherung einer operativ bedeutsamen Person in den VEB Pharma Neubrandenburg mit dem Ziel der Verschleierung der Herkunft“ mitgewirkt, wird ihm vom MfS bescheinigt.

Die Inoffiziellen Mitarbeiter im Umfeld von „Sylvia Beyer“ lieferten offensichtlich fleißig Informationen über die Risiko-Aussteigerin, so dass das MfS wenige Monate nach dem Start Maier-Witts in Neubrandenburg zu einem ersten positiven Resümee ihrer „Eingliederung“ in der Viertorestadt kommt: „Nach inoffizieller Einschätzung tritt der IMS ’Anja Weber‘ im Arbeitsbereich ruhig und unauffällig in Erscheinung. Sie besitzt eine positive Arbeitseinstellung und bemüht sich, den betrieblichen Anforderungen gerecht zu werden. Ihr werden hohe Einsatzbereitschaft, Eigeninitiative und politisches Verantwortungsgefühl bescheinigt. Im Kollektiv ist sie geachtet und anerkannt.“

Der Arbeitsplatz von „Sylvia Beyer“

Geachtet und anerkannt – diese Einschätzungen teilen ehemalige Pharma-Mitarbeiter, die sich an „Sylvia Beyer“ erinnern. Ende der 80er Jahre konnte freilich niemand ahnen, dass es sich bei der Frau, Maier Witt war inzwischen Ende 30, um eine in der BRD steckbrieflich gesuchte RAF-Terroristin handelte. „Freundlich, sympathisch, zurückhaltend“, so erinnert sich eine Neubrandenburgerin an eine Zufallsbegegnung. Als angenehm und aufgeschlossen beschreiben sie ehemalige Kollegen. Mit einem Fahrrad kurvte sie oft über das große Pharma-Gelände.

Und: Silke Maier-Witt wollte sich erneut qualifizieren. Sie begann im September 1988 ein postgraduales Studium für Informations- und Dokumentationswissenschaften an der Technischen Hochschule Ilmenau. Das MfS konnte im Mai 1988 zufrieden konstatieren: „Die fachlichen und gesellschaftlichen Aufgaben werden durch den IMS mit hoher Einsatzbereitschaft, politischem Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative gelöst.“

Auch für die SED interessant

Dank ihrer offensichtlich vorbildlichen Arbeitseinstellung und ihrer politischen Ansichten wurde „Sylvia Beyer“ aber auch für die SED interessant. Der damalige Chef der Abteilungsparteiorganisation (APO) Forschung, zu der auch das kleine Dokumentationszentrum gehörte, sprach Maier-Witt bereits wenige Wochen nach ihrem Arbeitsbeginn bei Pharma wegen einer Parteimitgliedschaft an. Bis Dezember 1987 sollte sie ihre Formulare zur Aufnahme als SED-Kandidat ausfüllen und zwei Bürgen benennen.

Diese Aktivitäten wurden von ihren Führungsoffizieren in der Abteilung XXII allerdings mit äußerstem Misstrauen begleitet. In einem internen Bericht vom November 1988 wird die „übertriebene Eigenprofilierung und -entwicklung innerhalb des Betriebes, ohne genügende Beachtung der daraus evtl. resultierenden sicherheitsmäßigen Konsequenzen“ durch Maier-Witt gerügt. Durch die Teilnahme an Parteiversammlungen, ein „überdurchschnittlich berufliches Engagement, politisch-progressives Auftreten und durch eine in der Betriebszeitung veröffentlichte Stellungnahme“ sei der IMS „Anja Weber“ in den Blickpunkt der Parteiorganisation des Betriebes geraten. „Dies führte dazu, daß eine Aufnahme als Kandidat in die SED nicht mehr verhindert werden konnte.“

Das ergab sich auch aus dem besagten Artikel in der Betriebszeitung Biopharmer des VEB Pharma, der im April 1988 unter der Überschrift „Wo ein Genosse ist, da arbeitet die Partei! Mein Standpunkt“ erschien. Mit dem Text zeigte „Kollegin Sylvia Beyer“, dass sie voll auf SED-Linie lag. Eine Rede des SED-Chefs Erich Honecker wurde als beispielgebend vorausgesetzt, wie es üblich war in DDR-Zeitungsartikeln. Daraus leitete die Autorin ihr eigenes Handeln ab: „Es kommt auf die Initiative von uns allen an, es kommt darauf an, Kleingläubigkeit zu überwinden. Probleme anzupacken. Ich habe mir, nicht zuletzt auch aus diesem Grunde vorgenommen, mein Engagement für unseren Staat verbindlich zu machen und Mitglied der SED zu werden.“

„Suche nach einem Lebenspartner“

Die Führungsoffiziere von Maier-Witt befürchteten, dass die Ex-Terroristin in den Parteiversammlungen zu sehr auf sich aufmerksam machen könnte. Und sie mokierten sich über die Eigenständigkeit ihres Handelns: „Kritisch mußte eingeschätzt werden, daß der IM dabei ohne vorherige Abstimmung mit den verantwortlichen Genossen des MfS gehandelt und vollendete Tatsachen geschaffen hat.“ Die Stasi war, vor allem mit Blick auf die früheren Pannen, eher an einem unauffälligen Auftreten im Umfeld des Betriebes und der Wohnung in der Neubrandenburger Oststadt interessiert. Dabei wurden Maier-Witt durchaus auch private Kontakte zugestanden, ja, das MfS „beauftragte“ seinen IMS „Anja Weber“ sogar, „verstärkte Aktivitäten zum Aufbau eines stabilen Umgangskreises zu unternehmen“.

Sorge bereitete ihren Betreuern vom Geheimdienst vor allem der Umstand, dass sie als junge Frau noch keinen Partner in der DDR gefunden hatte. Vor diesem Hintergrund schreckten die Stasi-Leute auch nicht davor zurück, ihr bei der Partnerwahl unter die Arme zu greifen. „Die Suche nach einem geeigneten Lebenspartner ist dabei nicht zu vernachlässigen. Ein potentieller Kandidat dafür wurde bereits als IM unserer DE (Diensteinheit, Anm. d. Autors) verpflichtet und besitzt eine enge persönliche Verbindung zu ihr.“ Der Kuppelversuch des MfS brachte allerdings keinen Erfolg.

Im Gegensatz zu vielen anderen SED-Mitgliedern, die ihre Parteibücher während der Wende abgaben oder vernichteten, blieb „Sylvia Beyer“ alias Silke Maier-Witt der SED auch nach dem Wendeherbst verbunden. So nahm sie Ostern 1990 in Kühlungsborn an einer Veranstaltung der Partei, die sich mittlerweile in PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) umbenannt hatte, teil. „Wir saßen nebeneinander auf einer Decke an der Ostsee“, erinnert sich eine Frau aus Neubrandenburg. Laut den Erinnerungen einer Landtagsabgeordneten der Linken aus Mecklenburg-Vorpommern strebte Silke Maier-Witt, natürlich immer noch unter dem Namen „Sylvia Beyer“, im Frühjahr 1990 sogar eine Kandidatur für den Landesvorstand der PDS an.

Verwunderung über Zwei-Raum-Wohnung

Gewohnt hatte Silke Maier-Witt unter ihrem Decknamen „Sylvia Beyer“ ab Oktober 1987 in der Ernst-Alban-Straße. Ein trister, fünfstöckiger Plattenbau der Arbeiter-Wohnungsbaugenossenschaft (AWG) „Fortschritt“ in der Oststadt, ein Plattenbauviertel Neubrandenburgs. Ihre Wohnung lag im vierten Stock, am Rande des Wohngebiets. Für zwei Zimmer, Küche und Bad zahlte sie 65 Mark. Vom Wohnzimmer aus bot sich ein herrlicher Ausblick auf die Innenstadt sowie die umliegenden Wälder.

„Sie war immer freundlich und höflich“, erinnert sich eine Nachbarin. In dem Hausaufgang hatte die Ex-Terroristin die ehrenamtliche Funktion des Hausobmanns inne. Sie verwaltete die finanziellen Einnahmen und Ausgaben des Aufgangs mit zehn Mietparteien. In den gut zweieinhalb Jahren, in denen „Sylvia Beyer“ in der Oststadt wohnte, habe sie zwei „wunderschöne Hausfeste“ organisiert. Vor allem für die zahlreichen Kinder, die in den 80er Jahren in dem Aufgang lebten, habe sie sich einiges einfallen lassen.

Für Verwunderung bei den Nachbarn sorgte allerdings, dass die alleinstehende „Sylvia Beyer“ eine Zwei-Raum-Wohnung zugewiesen bekam. Angesichts der auch in Neubrandenburg herrschenden Wohnungsknappheit musste sich im gleichen Aufgang beispielsweise eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern eine baugleiche Zwei-Raum-Wohnung teilen. Niemand konnte ahnen, dass „Frau Beyer“ durch das MfS bei der Wohnungssuche unterstützt worden war.

Silke Maier-Witt war in der Laufgruppe ihres Betriebes Pharma aktiv, wie in der Betriebszeitung Biopharmer nachzulesen ist. So gewann „Sylvia Beyer“ beim 2. Pharmalauf 1988 über fünf Kilometer in ihrer Altersklasse in beachtlichen 23:40 Minuten. Beim Betriebssportfest im gleichen Jahr belegte sie in ihrer Altersklasse (36–45 Jahre) den ersten Platz. Die offensichtlich durchtrainierte RAF-Austeigerin musste sich beim Sportfest in Disziplinen wie Weitsprung, Sprint, Seilspringen und Kugelstoßen beweisen.

Die Erinnerungen an „Sylvia Beyer“ fallen ambivalent aus. So meinte eine Nachbarin damals: „Ich kann mir nicht helfen, mit der Frau stimmt etwas nicht.“

Vorderseite des Faltblattes „Dringend gesuchte Terroristen“. Erste Reihe v. l. Susanne Albrecht, Elisabeth von Dyck, Friederike Krabbe – und Silke Maier-Witt

Buchtipp

Die Stasi-RAF-Connection galt als größtes Staatsgeheimnis der DDR. Autor Frank Wilhelm, Journalist beim Nordkurier, hat unzählige Stasiakten gewälzt und eine Vielzahl von Originaldokumenten aufgespürt. „RAF im Osten“ – zu bestellen im LpB-Shop

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