„Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ – Rezension

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Sascha-Ilko Kowalczuk befasst sich in „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ mit dem Beitritt der DDR zur alten Bundesrepublik Deutschland und dessen Folgen. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Verhältnis von Ost- und Westdeutschen.

Bild von Michael Gaida auf Pixabay

Das Ergebnis der ersten demokratischen Wahl in der DDR stellte in mehrerlei Hinsicht eine Ironie der Geschichte dar. In allen Prognosen des Wahlausganges war davon ausgegangen, dass die SPD die Wahl gewinnen würde. Stattdessen konnte sich am Wahlabend die Allianz für Deutschland, ein Bündnis aus CDU, Deutscher Sozialer Union und Demokratischem Aufbruch, als großer Wahlsieger präsentieren. Sie erhielt 48 Prozent der Stimmen, die SPD lag weit abgeschlagen auf Platz zwei. Die SED/PDS erreichte Platz drei mit 16,4 Prozent.

Wahlanalysen stellten fest, dass die Allianz für Deutschland, die den denkbar schnellsten Weg zur Wiedervereinigung über die sofortige Einführung der D-Mark versprochen hatte, – entgegen allen Erwartungen – in erster Linie von Arbeitern gewählt worden war. Die SED-Diktatur war also genau von denjenigen abgewählt worden, in deren Namen und zu deren Gunsten der Sozialismus gegen alle Widerstände und unter Inkaufnahme großer Opfer durchgesetzt und erhalten worden war.

Auf der anderen Seite – vielleicht eher tragisch als ironisch – litt keine andere Gruppe unter dem folgenden Transformationsprozess so stark wie die Arbeiter, die mehrheitlich die schnellstmögliche Einheit gewählt hatten. Keine Gruppe war so sehr von Arbeitslosigkeit und Strukturumbrüchen betroffen wie sie. Die Allianz hatte sehr hohe Erwartungen an Einheit und D-Mark geschürt, die bereitwillig von den DDR-Bürgern übernommen wurden. Sie hatten die Diktatur gegen neue Heilsversprechen eingetauscht – und waren enttäuscht worden.

Kowalczuk beschreibt, wie die Ostdeutschen durch die Wiedervereinigung zu Ostdeutschen wurden, wie Selbst- und Fremdzuschreibungen „den Ostdeutschen“ konstruierten. Gewiss, Ostdeutschland sei ein Erfahrungsraum mit eigenen Geschichte, Erinnerungen und Erfahrungen. Diese würden nicht nur durch explizite Berichte und Erzählungen, sondern auch über unausgesprochene Stimmungen, Traditionen und eingeübte Gewohnheiten an die folgende Generation transportiert und dadurch fortgesetzt bzw. weiter tradiert.

Die Wiedervereinigung 1990 konstituierte – unausgesprochen – die Bundesrepublik neu, deren politisches System sich zwar nicht grundsätzlich änderte, wohl aber die Gesellschaft, der schließlich die DDR mit ihren 17 Mio. Menschen beitrat. Die Unterschiede in Westdeutschland wurden eingeebnet, es gab nun die Westdeutschen und die Ostdeutschen als zentralen Gegensatz, der alle anderen Unterschiede zwischen den Westdeutschen überlagerte. Die alte BRD war auf die Deutsche Einheit in keiner Weise vorbereitet. Darüber hinaus wurde in der Bundesrepublik kein Veränderungsbedarf wahrgenommen, schließlich hatte man sich ja als das „siegreiche“, das erfolgreichere System erwiesen.

Die Westdeutschen bauten ihrerseits – ohne die ostdeutsche Perspektive einzubeziehen – an ihrem Bild des Ostdeutschen. „Der Subtext des >Einigungsprozesses< […] lautete: Wir, die Westler, haben ein siegreiches, ein überlegenes System und zwar in jeglicher Hinsicht. Nicht nur wirtschaftlich, politisch, kulturell, nein, auch die Menschen sind Euch überlegen.“ Die Schlussfolgerung aus einer solchen Haltung lautete daher auch folgerichtig: Passt euch an! Das Ergebnis war die komplette 1:1-Übertragung des bundesdeutschen Systems auf die ehemalige DDR.

Was für das System galt, galt ebenso für seine Eliten. Die ostdeutschen Eliten waren unmittelbar nach der Wiedervereinigung entweder durch eine verantwortungsvolle Position im DDR-System politisch diskreditiert oder/und nicht so mit dem bundesdeutschen System vertraut, dass sie in den neuen Bundesländern den Neuaufbau einer öffentlichen Verwaltung und rechtsstaatlichen Justiz hätten bewerkstelligen können. Es war andererseits von westdeutscher Seite schlicht nicht gewollt: „tatsächlich fand ein Austausch von Führungskräften größten Ausmaßes statt, so wie ihn zu Friedenszeiten in Europa keine Gesellschaft erlebt hatte“. Dieser Austausch betraf jedoch nicht nur Verwaltung und Justiz, sondern setzte sich in vielen weiteren Bereichen der Gesellschaft fort, in Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, den Medien. Mit erheblichen Folgen für die Wahrnehmung der Ostdeutschen in Bezug auf das neue System und seine Eliten: „Der rigide Austausch der gesamten ostdeutschen Elite, der Funktionärs- und Dienstklasse, der Führungskräfte, nicht nur der obersten Spitzen trug erheblich zur Demütigung eines Teils der Ostdeutschen bei und zwar nicht nur der direkt Betroffenen und ihrer Familien.“

Ostdeutschland wurde nach Einführung der D-Mark und Wiedervereinigung zunächst in erster Linie als neuer Absatzmarkt für die westdeutsche Konsumgüterwirtschaft betrachtet. Die wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands wurde geprägt durch radikale Privatisierungen, insbesondere der ostdeutschen Infrastruktur, die fast ausschließlich an westdeutsche oder ausländische Eigentümer verkauft wurde. Da nur eine Minderheit der Betriebe weiterbetrieben wurde, erlebte Ostdeutschland einen kompletten Zusammenbruch der Arbeitsgesellschaft, die zu DDR-Zeiten das gesamte Leben bestimmt hatte. Die Betroffenen verloren Lebensqualität, Struktur, Kontakte, Werte und vieles mehr.

Dieser fundamentale, soziokulturelle Bruch führte zur Abwanderung, insbesondere junger, gut ausgebildeter Frauen, Landflucht und Alterung als prägende Entwicklung Ostdeutschlands. Dies sei grundsätzlich Normalität in westlichen Gesellschaften, erreichten in Ostdeutschland jedoch eine Geschwindigkeit und Intensität, die in westlichen Gesellschaften einmalig sei. Ostdeutschland könne insofern als ein Modell der Moderne betrachtet werden, das die zu erwartenden Entwicklungen aller westlichen Gesellschaften bereits vorweg nimmt.

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