
Reichstagsgebäude. Zwischengeschoss. Die Garderobenfrau hat alle Hände voll zu tun. Jacken, Taschen, Schirme sind nichts für die Besuchertribüne. Wer seine Sachen los ist, tritt ein paar Schritte zurück. Näher ran, an die große Politik. Nur eine Glasfront steht noch zwischen Besuchern und Plenarsaal. Davor eine Menschentraube. „Nicht essen, nicht trinken. Nicht Buh rufen, klatschen, fotografieren.“ Die Mitarbeiterin vom Besucherdienst gibt letzte Hinweise. Auch den: Nicht einschlafen! Aus Respekt vor dem Hohen Haus. Dann öffnet der Saaldiener die Tür.
Der Besucherdienst hat in den Jahren 2002 bis 2016 mehr als 35 Millionen Gäste betreut. Der Plenarsaal ist, neben Kuppel und Dachterrasse, die Hauptattraktion im Bundestag. Gut 200 Plätze sind für Besucher reserviert, Termine in den Sitzungswochen besonders begehrt.
Der Anblick (ent)täuscht

Es ist früher Mittwochnachmittag. Tag eins der Sitzungswoche Ende Juni. Abgeordnete aller Fraktionen stellen der Bundesregierung gerade Fragen. Über Datenschutz, Wölfe. Zum Terroranschlag vor Weihnachten in Berlin. Zur Position der Bundeskanzlerin zu EU-Handelsverträgen mit afrikanischen Ländern. Staatssekretärinnen und Staatssekretäre antworten.
Abgeordnete kommen. Abgeordnete gehen. Die meisten Plätze im Plenum sind noch leer. Ein Gradmesser für den Fleiß der Abgeordneten und die Qualität ihrer Arbeit ist das nicht. Ihre Hauptarbeit verrichten die Politiker hinter den Kulissen. In Ausschüssen und Arbeitskreisen. Hier bereiten sie Entscheidungen, die später im Plenum getroffen werden, vor. Hier werden Gesetze und Anträge beraten, Sachverständige gehört, Einzelheiten besprochen, Fakten geklärt und Empfehlungen für die späteren Beschlüsse gegeben. Hinzu kommen Fraktionssitzungen, Fachtagungen, öffentlichen Termine, Interviews. All das findet parallel zu den Plenardebatten statt. Denn die Zeit, in der die Abgeordneten aus dem ganzen Land in Berlin zusammenkommen, ist auf die Sitzungswochen beschränkt.

Nie fehl am Platz
Ein Stuhl allerdings, der darf nie leer bleiben: der des Bundestagspräsidenten. Ohne ihn geht’s nicht los. Er hat einen der weitesten Wege in den Plenarsaal. Sein Büro liegt im zweiten Obergeschoss, noch über den Besuchertribünen. Wenn er, versteckt hinter Trennwänden, unter den Schwanzfedern des Bundesadlers den Saal betritt, erhebt ein Gong die Abgeordneten von ihren Plätzen.
„Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.“ Es sind immer die gleichen beiden Sätze, mit denen Präsident Wolfgang Schäuble sie beginnt. Protokollarisch hat er nach dem Bundespräsidenten das zweithöchste Amt im Staat – vor Kanzlerin und Bundesratspräsident. Hier, im Plenarsaal, ist er dafür verantwortlich, dass die Sitzung reibungslos verläuft, korrekt abgestimmt wird, Zwischenrufe nicht ausarten. Oder, wie jetzt, der nächste Redner das Wort erhält.
Unwahrscheinliche Begegnungen

Die Fragestunde ist ein festes Ritual der Mittwochsitzung. Argumente, Statistiken, Studien. Eine Stunde können die Besucher zuhören. Dann gibt es Jacken, Taschen, Schirme zurück. Hier oben, vor dem Plenarsaal, Abgeordneten, Ministern oder gar der Bundeskanzlerin zu begegnen, ist unwahrscheinlich. Sie haben eigene Eingänge. Auf der anderen Seite, eine Etage tiefer, links und rechts neben dem großen Bundesadler. Diese Etage, die Plenarsaalebene, ist den Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und dem Parlamentspersonal vorbehalten. In den Wandelhallen ist Platz für wichtige Gespräche am Rande, in der Bibliothek Gelegenheit, Daten und Fakten nachzuschlagen. Ihre Büros haben Abgeordnete hier nicht. Die verteilen sich auf umliegende Gebäude.
Wie sich die Fraktionen zu Themen positionieren, das besprechen sie im dritten Stock. Hier befinden sich ihre Versammlungssäle, Vorstandszimmer und Vorräume, im Mittelpunkt ein Pressefoyer. Hier entstehen Fernsehbilder, O-Töne, Interviews. Ein Anziehungspunkt: das Glasrondell in der Mitte. Nach unten blicken die Augen in den Plenarsaal, nach oben wölbt sich die Kuppel des Reichstagsgebäudes.

Zur Sicherheit ein Container
Während die Abgeordneten drinnen weiter Frage um Frage stellen, heißt es draußen anstehen. Jeder Besucher, der ins Gebäude will, muss erst durch die Sicherheitskontrolle. Bilder, auf denen sich die Massen von der Steintreppe hinunter bis zur Rasenfläche vor dem Westportal drängen, sind Vergangenheit. Jetzt versperren Gitter hier den Weg. Seit der Terrorwarnung im Herbst 2010 wird nicht mehr im Eingang hinter den mächtigen Säulen kontrolliert, sondern draußen, in Containern. Nun staut es sich bei ihnen.
Die meisten, weil sie die Kuppel sehen wollten. Sich spontan mit einreihen? Kurzentschlossen bei einer Führung mitmachen oder dem Bundestag aufs Dach steigen? Die Sicherheitsfrau schüttelt den Kopf. Rein kommt nur, wer sich vorher angemeldet hat.
Der Bundestag – eine Stadt in der Stadt

Wer die Schlange hinter sich gelassen hat, geht über die Freitreppe in eine kleine Stadt in der Stadt. Einer Stadt, in der die Abgeordneten den kleinsten Teil der Bevölkerung ausmachen. Rund 6000 Menschen sorgen im Reichstagsgebäude und dem benachbarten Paul-Löbe-Haus, Jakob-Kaiser-Haus und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus dafür, dass der parlamentarische Betrieb reibungslos läuft. Das sind Mitarbeiter der Verwaltung, der Abgeordneten, der Restaurants, des Sicherheitsdiensts – und fast so viele Leute wie in Lübz oder Malchow wohnen. Der Bundestag hat eine eigene Polizei, Postleitzahl, Kita, Ärztin. Eine U-Bahnstation. Restaurants. Geldautomaten. Und einen ausgeklügelten Tunnel, der alle vier Häuser miteinander verbindet. Ob Bleistift, Champagner oder Post: Alles kommt unterirdisch an. Hier, unter der Spree, haben Zulieferer und Dienstleister freie Fahrt, auch wenn sich oben wieder mal kein Rad mehr dreht. Auch die Abgeordneten wissen die 500 Meter zu schätzen und bleiben bei Regen trocken.
Mittwochabend, 20.06 Uhr. Nach sieben Stunden und vier Minuten ist für heute das letzte Wort gesprochen. Im Zwischengeschoss gähnt schon lange Leere. Mittwochs können die Sitzungen nur bis 16 Uhr besucht werden. Morgen, 9 Uhr, kommen die nächsten Jacken, Taschen, Schirme.