Wir befinden uns in der heißen Phase des Wahlkampfes. Plakate weisen unübersehbar darauf hin, dass wir uns am 4. September zwischen 17 zur Wahl zugelassenen Parteien entscheiden dürfen.
Diese Parteien lassen sich nach ihren politischen Forderungen bewerten und nach unterschiedlichen Positionen einordnen. Neben der Zuordnung zu politischen Lagern werden besonders im internationalen Vergleich regelmäßig sogenannte Parteienfamilien — wie sozialdemokratisch, konservativ, sozialistisch oder liberal — bemüht. Es finden sich allerdings gerade in jüngerer Zeit besonders Zuschreibungen wie „populistisch“ oder „extremistisch“. Was steckt dahinter?
Um dies zu klären, haben wir mit den Politikwissenschaftlern Dr. Gudrun Heinrich, Jan Müller und Christian Nestler gesprochen. Sie arbeiten an der Universität Rostock und sind Mitglieder der Arbeitsgruppe Politik und Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern.
Was versteht die Wissenschaft unter Populismus?
Nestler: Die eine Definition für Populismus, der alle seine Spielarten erklärt, gibt es nicht. Allerdings sind gewisse Grundelemente zu erkennen. Es werden etwa einfache Lösungen für komplexe Probleme angeboten. Dabei ist der Hauptbestandteil dieser dünnen Ideologie aber eine Gegenüberstellung des einfachen und rechtschaffenden Volkes gegen eine korrumpierte und abgehobene Elite. Der Populist versteht sich als Sprachrohr des Volkes und will dessen, durch ihn verbalisierte Forderungen, gegen die Herrschenden durchsetzen. Ausdruck hiervon ist unter anderem die Betonung von direktdemokratischen Elementen. Je nachdem, ob es sich um eine linke oder rechte Ausprägung des Populismus handelt, kommen in unterschiedlichen Intensitäten Autoritarismus und Nativismus vor.
Ist das Phänomen neu für die Bundesrepublik?
Müller: An sich schon, denn in Deutschland hat man nicht nur in der Wissenschaft lange Zeit von einem „Populismus-Tabu“ gesprochen. Gerade im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Erfolgen des Rechtspopulismus scheint hier eine Verschiebung stattgefunden zu haben. Es ist jedoch wichtig zu differenzieren, dass nicht alle Aussagen, die eine Vereinfachung bemühen, automatisch populistisch sind.
Sie sprechen selbst von den Erfolgen des Rechtspopulismus. Welche Faktoren machen ihn stark?
Nestler: Hier wären viele Faktoren zu nennen, welche sich unter anderem in den Chiffren Globalisierung, Denationalisierung, Digitalisierung, Individualisierung o.ä. wiederfinden. Diese viel verwendeten Termini lassen sich zugespitzt auf das komplexer werdende politische Handeln in der Gegenwart reduzieren. Die Herausforderung von politischen Parteien, gerade in einer repräsentativen Demokratie wie jener der Bundesrepublik, ist es, diese Prozesse weiterhin erfolgreich in die breite Bevölkerung zu vermitteln. Medien und Zivilgesellschaft haben hier selbstverständlich ebenfalls Anteil. Der Erfolg von Rechtspopulisten ergibt sich aus der Melange von unzureichender Vermittlung der Politik, suggerierten Gefahren von globalen Ereignissen für das eigene Leben respektive dessen Wohlstand.
„Rechtspopulismus“ wird ja auch häufig als Vorwurf verstanden — was macht ihn für demokratische Prozesse gefährlich?
Müller: Die Rhetorik von Populisten verfängt in der oben geschilderten Lage, weil sie bewusst Ängste und Wut schürt. Ihre einfachen Lösungen bauen auf vertraute Konzepte, die in der Zeit meist auch erfolgreich waren — etwa in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren. Neben der Vermittlung der Illusion, dass ein Zurückdrehen der Uhren möglich ist, sind ihre Vorstellungen dezidiert anti-pluralistisch. Forderungen sind exklusiv, sie grenzen bewusst aus. Darüber hinaus mobilisieren sie für sich durch eine Klage gegen alle anderen Wettbewerber und damit gegen das System an sich. Wenn sie dann aber in Verantwortung selbst nicht wie versprochen handeln, fördern sie Demokratie-, Parteien- und Politikverdrossenheit.
Sie sprechen hier vom „Rechtspopulismus“. Auf der anderen Seite kennen wir auch seit Jahren Gruppen und Parteien, die als „rechtsextrem“ eingestuft werden. Wo liegen hier die zentralen Unterschiede?
Nestler: Während rechtsextreme Parteien sich in ihrem Bezug zum Nationalsozialismus klar als verfassungsfeindlich geben, ist diese Zuschreibung bei Rechtspopulisten nicht ohne weiteres anzubringen. Tatsächlich sind viele ihrer Forderungen erzkonservativ und teilweise illiberal, allerdings stehen sie im Parteienwettbewerb für Nation und nationale Identität ein. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den etablierten Parteien, aber eben verglichen mit dem politischen Wettbewerb anderer europäischer Länder nichts Ungewöhnliches. Vielmehr scheint ein Grundkonflikt in den westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts die Frage zu sein, ob man eine wie auch immer definierte Gemeinschaft national oder supranational — also beispielsweise durch die Europäische Union — organisiert.
Können Sie uns die zentralen Elemente der rechtsextremen Ideologie erläutern?
Heinrich: Extremismus verlässt die Grundlagen einer rechtsstaatlichen freiheitlichen Demokratie. Ziel von Extremisten ist die Abschaffung unserer politischen Ordnung — sei es von links oder rechts. Zur Zeit stellt vor allem der Rechtsextremismus eine der zentralen Herausforderungen dar. Kern dieser Ideologie ist die Vorstellung von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen; dabei wünschen sich Rechtsextreme eine Gesellschaft von ethnisch Gleichen —eine Vorstellung, die unserem Gesellschafts- und Staatsverständnis diametral widerspricht.
Danach ist Rechtsextremismus mit dem Grundgesetz unvereinbar. Warum können aber immer noch Parteien mit rechtsextremer Programmatik zu Wahlen antreten?
Heinrich: Parteien haben zunächst nur formale Kriterien zu erfüllen, wenn sie zur Wahl antreten. Sie müssen ernsthaft als Partei antreten und gegebenenfalls eine gewisse Anzahl von Unterstützerunterschriften und im Zweifel Rechenschaftsberichte nachweisen. Eine Institution, die Parteien auf ihre inhaltlichen Ziele hin überprüft und dann über eine „Erlaubnis“ entscheidet, gibt es in der Bundesrepublik nicht.
Aber zur Zeit entscheidet doch gerade das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über einen Antrag, die NPD zu verbieten.
Heinrich: Ja. Aber nur auf Antrag von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung wird das Bundesverfassungsgericht aktiv, nicht automatisch wenn sich eine neue Partei gründet. Das ist damit zu erklären, das mit einem möglichen Verbot hart in den Wettbewerb zwischen den Parteien eingegriffen wird. Verbote sind daher äußerst selten. Bisher wurden in der Bundesrepublik seit 1945 nur zwei Parteien verboten. Das Urteil zur NPD wird im Herbst erwartet.
Warum entscheiden sich Wählerinnen und Wähler für rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien.
Müller: Rechtspopulisten bieten scheinbar einfache Lösungen an, sie versprechen gegen „die da oben“ etwas zu tun und bemühen dabei einen vertrauten Bezug zu Nation und einer hiermit verbundenen Identität. In Ermangelung einer Gestaltungskompetenz handelt es sich nur bedingt um einen Zuspruch aus Überzeugung, sondern vor allem um Protestwahl.
Heinrich: Auf dem Wahlzettel das Kreuz bei einer rechtsextremen Partei zu machen ist nur schwer als reine Protestwahl zu verstehen. Die Wahl für die NPD kann aber ebenfalls als Denkzettel für die etablierten Parteien verstanden werden. Das muss aber nicht so sein. Häufig verbindet sich die Entscheidung für eine extreme Partei auch mit einer extremen, anti-demokratischen Einstellung. Gleichzeitig wählen nicht alle Menschen, die anti-demokratisch denken auch anti-demokratische Parteien. Wahlentscheidungen fußen auf vielfältigen Überlegungen und sind nicht immer rational zu erklären.
Was heißt das für die Wahl am 4. September?
Nestler: Die Wählerinnen und Wähler haben die Chance, sich zu entscheiden. Ihre Stimme beeinflusst, wer die nächsten fünf Jahre im Landtag vertreten ist und wer über die Richtung der Politik bestimmt.
Heinrich: Dabei sollte sich die Wahlentscheidung daran orientieren, wem ich zutraue, die Probleme zu erkennen und vor allem Lösungen für die anstehenden Fragen herbeizuführen.
Die Serie
Teil 1: Die Analyse der Wahl 2011
Teil 2: Die Strukturmuster des Wahlverhaltens
Teil 3: Wie kann man Frauen gezielt fördern?
Teil 4: Faktoren der Wahlentscheidung
Teil 5: Eine Frage von Wahl und Nichtwahl
Teil 6: Die Chancen für neue Parteien