„Brutale Gewalttaten gibt es leider immer noch“

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Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Foto: Wikimedia

Beispiele: NSU, München, Halle, Hanau. Es gibt eine Kontinuität von rechter Gewalt, sagt Prof. Dr. Oliver Plessow. Nach Lichtenhagen, aber auch lange davor. Unser Interview mit dem Historiker der Universität Rostock zum 30. Jahrestag der Pogrome in Rostock – und über das Kolloquium am Donnerstag.

Auf dem Kolloquium „Kommunale Erinnerung – kommunale Verantwortung“ am 25. August beschreiben Sie die Gewaltwelle in den frühen 90er-Jahren. Lässt sich genau sagen, wann und wo diese Welle begann?

Prof. Dr. Oliver Plessow Foto: Uni Rostock

Prof. Dr. Oliver Plessow: Vielfach wird der brutale Angriff auf den aus Angola stammenden Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa im November 1990 in Eberswalde als frühes Beispiel der Gewaltwelle genannt. Doch seit längerer Zeit wird – unter anderem von Franka Maubach, die auf dem Kolloquium ebenfalls sprechen wird – vermehrt auf die Vorläufer in Ost- wie Westdeutschland hingewiesen. Berüchtigt sind die zunehmende Gewalt von Neonazis und Skinheads in den letzten Jahren der DDR ebenso wie die mörderischen Vorkommnisse in der BRD in den 1980er Jahren, man denke nur an das Oktoberfestattentat 1980 oder den Brandanschlag in Duisburg 1984. Und auch diese kamen nicht aus dem Nichts, sondern stehen in einer durchgehenden Kontinuität von Gewalt gegen Menschen und Dinge von Rechts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Wie ging es nach 1992 weiter?

Genauso und doch anders. 30 Jahre in zwei Sätzen zusammenzufassen, erklärt wenig. Es ließe sich differenziert aufzeigen, in welchen Konstellationen Gewalt gegen Migrant/innen – die es durchweg gab – verstärkt wieder auftrat. Immerhin: Die schlimmen Ereignisse jener Jahre mobilisierten auch eine Reaktion all jener, die dem Hass gegen alles scheinbar Fremde etwas entgegensetzen wollten. Zudem hat sich unterdessen unsere Gesellschaft verändert, ist zumindest in Teilen aufmerksamer geworden, und allemal vielfältiger. Die Flüchtlingskrise 2015/2016 hat gezeigt, wie stark sich die politischen Verhältnisse seit 1990 gewandelt haben. Bei allen Rückschlägen setzte die Aufnahmebereitschaft so vieler ein positives Zeichen. Gleichzeitig ist Migration immer noch eines der zentralen Themen, die politisch polarisieren, man schaue nur auf die Veränderungen der Parteienlandschaft. Brutale Gewalttaten gibt es leider immer noch: den NSU, München, Halle, Hanau. 

Welches Motiv verband die Gewaltwelle in den frühen 90ern?

Festzuhalten ist zunächst, dass die Gewalttaten auf fremdenfeindlichen und rassistischen Denkweisen eines beträchtlichen Anteils der Mehrheitsgesellschaft aufbauen konnten. In einer schwierigen Umbruchsphase und ermutigt von einem Teil der Politik und der Medien, machte man die vormaligen DDR-Vertragsarbeiter und noch mehr die Asylsuchenden aus den Kriegs- und Krisenregionen Südosteuropas zu Sündenböcken. Sie wurden als unliebsame Konkurrenz betrachtet, die den Verlust der sozialen Absicherung zu verantworten habe. „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!,“ skandierten Hunderte, während die Gewaltbereitesten schon Steine schmissen.

30 Jahre sind die Pogrome von Lichtenhagen her. Welches Bild von damals ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ikonisch ist Martin Langers Bild des Mannes mit Deutschlandtrikot und eingenässter Jogginghose, der gerade den Hitlergruß zeigt. Und dann sind da natürlich noch die Fernseh-Bilder des Mobs vor dem brennenden Sonnenblumenhaus.

Wie erklären Sie heute jungen Studierenden, was damals in Rostock geschehen ist?

Im Geschichtsstudium geht es darum, dass die Studierenden lernen, sich die unterschiedlichen Erklärungsansätze, die es in der Forschung gibt, selbst zu erschließen, die Argumente methodengeleitet gegeneinander abzuwägen und dann zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Meine Rolle ist dabei nicht die des großen Geschichtserklärers, sondern des Methodenmittlers. Wichtig ist zum Beispiel die Unterscheidung zwischen langfristigen Phänomenen wie der gehörigen Verbreitung rassistischer Ressentiments und kurzfristigen Wirkungsgefügen. 

Wie hat sich die Universität Rostock bislang mit den Pogromen auseinandergesetzt?
Was ich beurteilen kann: 2012 gab es vor allem seitens der Politikwissenschaft ein markantes Interesse an den Vorgängen, die in einer Publikation einmündeten. 2017 und 2022 habe ich selbst mit Dr. Gudrun Heinrich von der Arbeitsstelle Politische Bildung, die einiges zu dem Thema veröffentlicht hat, jeweils einschlägige Seminare angeboten. Markant sind zudem die transdisziplinäre Veranstaltungsreihe im Frühjahr, die ganz unterschiedliche Perspektiven aus Wissenschaft, Kunst und Zivilgesellschaft zusammengebracht hat, und am Donnerstag (25.08.) eben das Wissenschaftliche Kolloquium, mit dem wir uns an der Gedenkwoche beteiligen.

Stichwort Gedenken: Was kann eine Stadt wie Rostock leisten?

Sie kann die Geschehnisse öffentlich würdigen und als bedeutenden Teil der jüngeren Stadtgeschichte akzeptieren, sie kann die Betroffenen unterstützen und die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung fördern. Sie kann zugleich zwischen den unterschiedlichen Akteuren moderieren und der Aufarbeitung eine geeignete Bühne bieten.  

Und 30 Jahre danach: Was ist die Aufgabe von Politik?
Als Bürger habe ich dazu eine dezidierte Meinung, als Wissenschaftler würde ich mich (anders als manch anderer, der sich mit dem Gegenstand beschäftigt) mit Forderungen etwas zurückhalten. Am wichtigsten wäre es mir allemal, dass eine Aufarbeitung möglich bleibt und der Staat alles tut, das Gedenken weiterzuführen.

Was meinen Sie: Wie wird das Erinnern an Lichtenhagen ’92 in 20 Jahren aussehen?

Ähnlich und doch anders.

Veranstaltungen

Kommunale Erinnerung – kommunale Verantwortung

Foto/Grafik: Hansestadt Rostock

Am 25. August in der Rostocker Stadthalle: das wissenschaftliche Kolloquium zum Umgang mit rassistischer Gewalt der 1990er-Jahre. Die Infos zur Veranstaltung – hier

30 Jahre nach dem Pogrom

Lichtenhagen 1992. 30 Jahre ist der Pogrom, sind die rassistischen Ausschreitungen am Sonnenblumenhaus her. In Rostock wird daran erinnert, u.a. mIt einem Tag der Begegnung am 25. August. Hier

Der Film zu Lichtenhagen ’92

Anlässlich des 30. Jahrestages der rassistischen Ausschreitungen am Rostocker Sonnenblumenhaus wird am 24. August im Innenhof des Schweriner Schlosses der Film „Wir sind jung. Wir sind stark“ gezeigt. Die Veranstaltung inklusive Gesprächsrunde findet auf Einladung des Filmkunstfestes MV, der Initiative „WIR. Erfolg braucht Vielfalt“ und des Landtages statt. Hier

Rechte Gewalt vor Lichtenhagen

Die rechtsextreme Szene in MV wuchs nach der Wiedervereinigung schnell. Bild: NDR

Die Anschläge in Rostock-Lichtenhagen 1992 stehen auch 30 Jahre später bundesweit für einen Höhepunkt an rassistischer Gewalt. Doch es gibt eine Vorgeschichte, die bis heute kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Angriffe auf Migranten und Unterkünfte für Geflüchtete gab es schon zuvor, und zwar flächendeckend. Unser TV-Tipp: „Verharmlost und vergessen – Rechte Gewalt vor Rostock-Lichtenhagen.“ Zu sehen am Mittwoch um 21 Uhr im NDR – oder in der Mediathek. Weiterlesen

Lesen Sie auch

Die Chronologie

Quelle: Ostsee-Zeitung, Ausgabe Rostock, 24. August 1992, Seite 1 (Ausschnitt links), Seite 9 (Ausschnitt rechts), Archiv Landesbibliothek

Rostock-Lichtenhagen, August 1992. Es brodelt im Stadtteil. Ankündigungen von Gewalt gegen die Asylbewerber in der Zentralen Aufnahmestelle machen die Runde. Ab dem 22. August werden aus Worten Taten. Tagelang. Steine und Brandsätze fliegen. Schaulustige johlen. In der dritten Nacht brennt der Plattenbau. Diejenigen, gegen die sich die Gewalt richtet, haben Todesangst. In dieser Woche jähren sich die Pogrome zum 30. Mal. Weiterlesen

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