Mehr Freiheit für mehr Menschen

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Arno Esch. Die Gedenktafel in Rostock. Foto: Wikimedia

„In welcher Gesellschaft will ich leben – diese Frage stellte sich Arno Esch“, sagt Dr. Natalja Jeske. „Dabei schwebte ihm eine ,neue Lebensordnung’ vor, die er verkürzt als ,soziale Demokratie im liberalen Geiste’ bezeichnete.“ Unser Interview mit der Biografin von Arno Esch – über ihre Recherche, über ihr Buch, über einen Rostocker Studenten, der mehr Freiheit für mehr Menschen erreichen wollte.

Dr. Natalja Jeske

Wie hat Ihre Recherche begonnen?

Dr. Natalja Jeske: Zunächst ging es allgemein um die Recherchen zu den Biografien der Deutschen, die zwischen 1950 und 1953 in Schwerin von dem Militärtribunal der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland zum Tode verurteilt wurden. 2016/2017 habe ich für dieses Projekt der Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau Kopien der Gnadenbesuche besorgt. Unter ihnen war das Gnadengesuch von Arno Esch – das letzte Zeugnis seines kurzen Lebens. Die Unterlagen aus Moskau führten zum Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin, wo Kopien der russischsprachigen Ermittlungs- und Prozessakten zum Fall Esch aufbewahrt werden. Von diesen Unterlagen wusste man seit langem, doch sie waren von den Historikern noch nicht ausgewertet worden. Wir überlegten deshalb gemeinsam mit der Landesbeauftragten, Anne Drescher, den sowjetischen Prozess gegen Arno Esch genauer zu untersuchen und vielleicht eine kleine Publikation vorzubereiten. Natürlich konnte ich als russische Muttersprachlerin die zum großen Teil handschriftlichen Unterlagen aus dem BStU-Archiv problemlos lesen. Doch mir wurde schnell klar, dass man die sowjetischen Dokumente nicht analysieren kann, ohne die persönliche Geschichte von Arno Esch und seinen Weg als Politiker gut zu kennen. Die Erinnerungen seiner Freunde und Mitstreiter, die die bisherige Sicht auf Esch maßgeblich prägten, reichten mir nicht, um ein rechtes Bild von ihm zu machen. Deshalb musste ich selbst recherchieren.

Wo haben Sie überall recherchiert?

Die erste Adresse war das Volkskundemuseum in Schönberg, wo der Nachlass der Mutter von Arno Esch, Emma Esch, aufbewahrt wird. Emma Esch hatte vor ihrem Tod 1985 die Evangelische Kirchgemeinde Schönberg mit der Verwaltung ihres Nachlasses beauftragt. Der Pastor Dietrich Voß bewahrte die Unterlagen auf und übergab sie schon vor Jahren dem Museum. Darunter befanden sich auch einige persönliche Notizen von Esch. Im Schönberger Museum fand ich erste Hinweise auf Eschs Verwandte. Ende 2017 bekam ich Kontakt zu Dr. Lutz Joanni, einem Großneffen von Arno Esch. Seine Mutter, Anneliese Joanni, ist eine Cousine von Arno Esch, sie lebt noch. Anneliese und Lutz Joanni haben ihre Familienerinnerungen mit mir geteilt und einige Unterlagen und Fotos zur Verfügung gestellt. Wie ich über viele Ecken an andere Zeitzeugen und Berichte aus Privatbesitz kam, wären Geschichten für sich. Natürlich habe ich auch in Archiven recherchiert, wie etwa im Archiv des Liberalismus in Gummersbach, im Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau oder im Bundesarchiv in Koblenz. In Koblenz entdeckte ich unter anderem ein Telegramm des Vaters von Arno Esch, in dem er den Bundespräsidenten Theodor Heuss aufforderte, gegen das Todesurteil seines Sohnes zu intervenieren.

Ein Leben auf mehr als 400 Seiten. Beschreiben Sie mal: Was war Arno Esch für ein Mensch?

Esch war eine beeindruckende Persönlichkeit, die gegensätzliche Charaktereigenschaften in sich vereinte. Er war zurückhaltend und selbstbewusst, offen und verschlossen, nüchtern und begeisterungsfähig, sachlich und emphatisch, vorsichtig und angstfrei. Eine Person, die nicht die eigenen Vorteile im Sinn hatte, sondern sich die Frage stellte, wie man mehr Freiheit für mehr Menschen erreichen kann. Esch glaubte an seine eigene Fähigkeit, die Welt um sich herum entsprechend seinen humanistischen, freiheitlichen Idealen zu verändern und war von der gewaltigen Kraft des menschlichen Geistes überzeugt. In diesem Sinne war er ein absoluter Idealist.

Und was für ein politischer Visionär?

In welcher Gesellschaft will ich leben – diese Frage stellte sich Arno Esch. Dabei schwebte ihm eine „neue Lebensordnung“ vor, die er verkürzt als „soziale Demokratie im liberalen Geiste“ bezeichnete. Das war die Vision einer Gesellschaft, in der nicht nur die Meinungsfreiheit oder politische Freiheit, sondern auch die „soziale Freiheit“ gewährleistet werden sollte, um dies mit der Formel des von Esch so verehrten Walther Rathenau auszudrücken. Den Weg der sozialen Freiheit sah Esch in der Angleichung der Startchancen für alle Bürger, die Bekämpfung der Monopole aller Art und dem Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital, zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Als Orientierung hat sich Esch die reformatorischen Ansätze von Walther Rathenau, Silvio Gesell und Wilhelm Röpke ausgewählt – Denker, die sowohl den Sozialismus als auch den „verzerrten“, durch die Monopole geprägten Kapitalismus ablehnten.

Mit seinem Engagement geriet er schnell in Konflikt mit SED und sowjetischer Besatzungsmacht.

Eschs Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands waren ganz andere, als die der SED. Esch hielt den Sozialismus, dessen Aufbau die SED im Osten Deutschlands bereits 1948 vorantrieb, für nicht zukunftsfähig. Auch den Marxismus hielt er für „unzeitgemäß“. Esch setzte sich mit dem Marxismus und seinen Schwachstellen offen auseinander. Er nahm sich vor, den Liberalismus zu erneuern und ihn als Alternative zur kommunistischen Weltanschauung zu etablieren. Außerdem lag ihm viel daran, gegen den Nationalismus einzutreten und ihn als Mittel der politischen Manipulationen der Kommunisten zu enttarnen. An dieser Stelle sind Eschs Auftritte gegen die National-Demokratische Partei (NDP) zu nennen – die Partei, die 1948 auf Initiative der sowjetischen Besatzungsmacht gegründet wurde. Eine Nachsicht seitens der SED und der sowjetischen Besatzungsmacht war daher nicht zu erwarten. Bereits im Herbst 1948 haben die hohen Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht ihn in einem internen Papier als Vertreter des „reaktionären“ Flügels der LDP bezeichnet.

Was war ausschlaggebend für seine Verhaftung?

Das Agieren von Esch war der SED und der sowjetischen Besatzungsmacht ein Dorn im Auge. Wie sie gegen ihn vorgehen sollten, blieb aber lange Zeit unklar. Esch ignorierte ja alle Signale, die nahelegten, er solle lieber in den Westen gehen. Entscheidend für seine Verhaftung war, dass die sowjetische Staatssicherheit erst im Oktober 1949 Belastungsmaterial über ihn in der Hand hatte. Es handelte sich um die Geständnisse seiner Parteikollegen, die in Verhören erzwungen wurden. Aus ihnen ging hervor, dass Esch die illegale Radikal-Soziale Freiheitspartei gegründet hatte und Kontakte zu Herbert Geisler, ein früherer Kollege im LDP-Jugendausschuss, in Westberlin unterhielt. Die sowjetische Staatssicherheit wusste von Geislers Kontakten zu westlichen Geheimdiensten. Sie nahm die belastenden Aussagen zum Anlass, Esch als Spion der ausländischen Geheimdienste zu verhaften.

Wie beschreiben Sie die beiden Prozesse gegen Arno Esch?

Das waren Prozesse gegen einen politischen Gegner, der als Spion, als Verbrecher verurteilt werden sollte.

Was sollte mit den Verurteilungen erreicht werden?

Es wäre nicht richtig, den Fall Arno Esch so darzustellen, dass die sowjetische Besatzungsmacht von vorne herein darauf abzielte, ihn zu ermorden. Als Esch verhaftet wurde, war die Todesstrafe in der Sowjetunion ausgesetzt. Sie wurde erst im Januar 1950 wieder eingeführt. Seine beiden Todesurteile – 1950 und 1951 – waren Teil der bürokratischen Routine im Zeichen des Kampfes gegen westliche Spione. Dessen Opfer wurden neben Esch viele andere Deutsche. Dass das Todesurteil gegen Esch Anfang 1951 über die entlassenen Bautzen-Häftlinge der Öffentlichkeit bekannt geworden war, ist eher als ein Zufall und nicht als eine gezielte Abschreckungsmaßname zu werten. Viel stärker war die Botschaft, die im Herbst 1949 von Eschs Verhaftung ausging. Sie bedeutete, dass jeder in der LDP – unabhängig von seiner exponierten Stellung – ein ähnliches Schicksal erleiden konnte, wenn er sich gegen die endgültige Gleichschaltung der Partei stellen würde. Eschs Verhaftung sollte unter anderem eine potentielle Opposition abschrecken.

Weshalb ist es heute wichtig, an Arno Esch zu erinnern?

Wie viele Menschen sind bereit, wie Esch bewusst ihre Karriere zu riskieren, um eigene Überzeugungen zu vertreten? Trotz persönlicher Gefahr gegen ein menschenverachtendes, auf Unfreiheit und Angst basierendes Regime anzukämpfen? Davon gab es und gibt es ganz, ganz Wenige. Doch gerade solche Persönlichkeiten wie Esch geben den Menschen den Halt und die Hoffnung. Sie zeigen, dass das Leben nicht von materiellen Interessen und Denken an sich selbst, sondern von den humanistischen und freiheitlichen Überzeugungen, von den Gedanken an die Menschen und die Menschheit bestimmt werden kann.

Wir dürfen auch nicht vergessen: Viele Themen, die Eschs Denken und Handeln bestimmten, sind nicht aus der Welt. Sie treten sogar immer deutlicher hervor. Der Nationalismus ist vielerorts auf dem Vormarsch und die Demokratien auf dem Rückzug. Die Zukunft der Freiheit ist mehr als je zuvor ungewiss. Das Gegenüberstehen der liberalen Weltanschauung einerseits und der kommunistischen andererseits – Stichwort China – erleben wir in neuer Stärke. Die Einigkeit Europas wird durch die schwache Ausprägung der gemeinsamen ideellen Werte in Frage gestellt – diese Gefahr sah Esch bereits 1949. Es gibt viele Anlässe, an Esch und sein geistiges und politisches Erbe zu denken.

Wie sind die Reaktionen auf ihr Buch?

Von denen, die das Buch wirklich gelesen haben, kommen nur positive Rückmeldungen. Gefreut hat mich das gute Echo von Dr. Peter Moeller, Vorsitzender des Verbandes Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS), der Esch ja persönlich kannte. Und ich freue mich, oft zu hören: „Ich habe sehr viel über die deutsche Geschichte, über die Politik gelernt und musste viel nachdenken.“ Das ist ja eine gute Kombination: Man erfährt Neues und das neue Wissen verändert die Sicht auf die Geschichte und auf die Welt um uns herum.

Leseprobe

Hier geht’s zum Kapitel „Für Liberalismus und gegen Nationalismus“ – bitte klicken

Zur Person

Arno Esch hatte seit 1946 an der Universität Rostock Rechtswissenschaften studiert und geriet durch sein Engagement für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft in der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in Konflikt mit SED und sowjetischer Besatzungsmacht. Im Oktober 1949 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst MGB in Rostock verhaftet und bald darauf in das Untersuchungsgefängnis am Schweriner Demmlerplatz gebracht. Im Schwurgerichtssaal des Schweriner Justizgebäudes wurde Arno Esch am 20. Juli 1950 von einem Sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Spionage und Bildung einer konterrevolutionären Organisation zum Tode verurteilt.

Nach seiner Deportation in die Sowjetunion und erneuter Verurteilung im Mai 1951 wurde das Todesurteil am 24. Juli 1951 durch Erschießen im Moskauer Butyrka-Gefängnis vollstreckt. Im Zusammenhang mit der Verfolgung von Arno Esch wurden 13 weitere junge LDP-Mitglieder aus Mecklenburg verhaftet und hingerichtet oder zu langen Lagerhaftstrafen verurteilt.

Das Buch

Natalja Jeske: Arno Esch. Eine Biografie

ISBN 978-3-933255-63-1. Schutzgebühr 10 Euro.
Bestellungen unter www.landesbeauftragter.de/publikationen/aktuelle-publikationen/

Das Buch ist zudem erhältlich in der Geschäftsstelle der Landesbeauftragten:

Tel.: 0385-734006, Fax: 0385-734007, Mail: post@lamv.mv-regierung.de

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