„Mich hat immer geärgert, dass die Leute sich anpassen.“

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Tage der Friedlichen Revolution: Gespräch mit Martin Klähn, Mitbegründer des Neuen Forums in der DDR

Ich habe gelesen, Sie können mit der Formulierung Friedliche Revolution nicht so richtig viel anfangen.

Jetzt muss man natürlich bedenken, dass seit der Friedlichen Revolution 30 Jahre vergangen sind und dass in diesen 30 Jahren ich natürlich auch einige Ansichten verändert habe. Aber ich habe das nie als eine Revolution begriffen, weil eine Revolution natürlich nach meinem Verständnis war: man holt sich Waffen von der Polizeiwache, besetzt den Rundfunk und den Fernsehsender und stellt die Verantwortlichen an die Wand. Und das haben wir ja alles nicht gemacht. Insofern habe ich damals ein anderes Revolutionsverständnis gehabt.

Sehen Sie das heute anders?

Ich sehe das tatsächlich als eine Friedliche Revolution an. Das hat sich bei mir aber mit den Jahren erst entwickelt, dass ich begriffen habe, dass das schon eine Form von gewaltfreiem Widerstand war, von Insubordination, von passiver Verweigerung und so weiter, was sich halt über die Jahre so angestaut hat. Dass die Leute sich das getraut haben, dass sie dann tatsächlich auf die Straße gegangen sind, natürlich auch im Schutz einer größeren Gruppe, was sie die Jahre davor vermieden haben. Sie haben ja auch immer vermieden, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Also bin ich zu der Ansicht gekommen, dass man da durchaus von einer Revolution sprechen kann.

Wie haben Sie das Jahr 1989 wahrgenommen?

1989 hat sich zunächst nicht von 1988 oder 1987 für mich unterschieden. Das war sozusagen ein Fluss von Ereignissen und Aktivitäten, die ich jetzt – mit anderen zusammen natürlich – 1989 fortgesetzt habe. Als dann die Massenflucht einsetzte und in Leipzig die Friedliche Revolution mit der ersten großen Demo am 9. Oktober begann – wobei leider ja Plauen immer vergessen wird, die am 7. Oktober schon eine Demonstration hatten – da brachen die Schleusen, da gewann das Ganze an Bewegung. Auch als wir das Neue Forum gegründet haben am 9. und 10. September, dort hatte ich zum ersten Mal so richtig das Gefühl, dass das jetzt ins Rutschen kommt, also dass wir auch einen großen Reformprozess anstoßen können. Als dann die Leute wirklich massenhaft diesen Aufruf unterstützt haben und der dann plötzlich überall in den Betrieben am schwarzen Brett hing und die Leute darüber diskutieren wollten mit ihren Chefs, da habe ich gedacht, jetzt passiert tatsächlich was. Die Leute laufen nicht nur weg, sondern hier geschieht was. Aber dass das wahrscheinlich dahin kommt, war mir 1987 klar, bei der Besetzung der Umweltbibliothek. Nach der Mahnwache wurden die Leute, die sie da verhaftet hatten, die Drucker der Umweltblätter und von Grenzfall, ja wieder freigelassen und sogar die Kopiermaschine später wieder zurückgegeben. Und da habe ich gedacht, mit der Staatssicherheit stimmt irgendetwas nicht. Das hätten sie früher nicht gemacht. Da war für mich auch das erste Mal, dass mir klar war, die weichen zurück. Also das Jahr `89 war für mich zunächst nichts Besonderes.

Wie haben Sie die Besetzung der Umweltbibliothek erlebt?

Ich hatte mit Siegbert Schefke studiert und der hat dann `86 die Umweltbibliothek mitgegründet. Und durch den Kontakt zu ihm bin ich also immer mal wieder dort gewesen.

In der Umweltbibliothek haben sie die Umweltblätter gedruckt. Dafür gab es eine kirchliche Lizenz, nur zum innerkirchlichen Gebrauch. Und sie haben auch den Grenzfall gedruckt, das ist diese Zeitschrift der Initiative für Frieden und Menschenrechte gewesen. Für die gab es keine Lizenz.

Jedenfalls sollten sie den Grenzfall drucken, nur hatte die Staatssicherheit Informationen bekommen und wollte sie dabei sozusagen auf frischer Tat ausheben. Aus irgendeinem Grund, das habe ich vergessen, haben die aber nicht den Grenzfall, sondern die Umweltblätter gedruckt, für die es aber eben eine Lizenz gab. Jetzt haben sie trotzdem zugegriffen und haben die Leute festgenommen und haben sicherlich nicht mit der Resonanz gerechnet. Das war schon enorm, was sich dadurch in Bewegung gesetzt hat. Und bei mir war damals der Eindruck, hier geht noch was.

Da gab es die große Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, die sich auch auf das Umweltthema bezogen hat und die auch eine Voraussetzung, eine Grundlage für die Aktivitäten des Neuen Forum gebildet hat. Insofern fand ich das großartig, dass sich die Umweltbibliothek gegründet und ich da Zugang hatte und durch die Umweltblätter, die Leute und die Veranstaltungen wenigstens ein bisschen was mitgekriegt habe, weil in Mecklenburg waren wir ja immer etwas abgeschnitten, in der Provinz. Später habe ich durch die Umweltbibliothek auch hier in Schwerin Anschluss gefunden, an ganz andere Kreise, weil ich ja nicht aus der kirchlichen Familie komme.

Es herrschte ja offenbar der Eindruck, der Norden schläft. Können Sie beschreiben, wie der Norden aufgewacht und aktiv geworden ist?

Der Norden schläft, ist natürlich auch eine Feststellung, wo wir uns auch erst einmal klarstellen müssen, auf welchen Zeitraum sich das bezieht. Es gab hier in der Landeskirche das Friedensnetzwerk, es wurden hier die Friedenswerkstätten veranstaltet, es gab hier das DDR-weite Ökologietreffen. Von Güstrow aus wurde Wehrdienstverweigerung betrieben, wurden die Bausoldaten auch mitbetreut. Es gab jährlich in Vipperow das Friedensseminar. Also es gab hier eine Reihe von Aktivitäten vor `89 oder in `89, die Gruppen waren DDR-weit vernetzt. Ich glaube nicht, dass man da sagen kann, dass hier jemand geschlafen hat.

Was den Herbst `89 anbetrifft, glaube ich, waren wir mit dem 2. Oktober in der Paulskirche auch mit vorne dran. Der 2. Oktober war ja eine Woche vor der ersten großen Demo in Leipzig. Es waren nach Einschätzung der Pastoren etwa 600 bis 800 Menschen am 2. Oktober in der Paulskirche. Und der 2. Oktober hat hier in Schwerin die Gruppenbildung miteingeleitet, also die Basisgruppen haben sich dort zusammengefunden. Und ich finde, da waren wir eigentlich gar nicht so spät mit diesem Prozess.

Wir waren spät mit der ersten Demonstration. Der 23. Oktober war – verglichen mit dem 9. Oktober in Leipzig – spät. Ich habe dazu eine These. Wenn man sich das in Leipzig und anderen Orten anguckt, hat es die Friedensgebete gegeben und im Anschluss an das Friedensgebet sind die Leute aus der Kirche mit den Transparenten auf die Straße gegangen. Hier in Schwerin war das geteilt, Die Leute vom Paulskirchenkeller, die Sozialdiakone, kamen mit den Leuten von der evangelischen Jugend nicht so richtig zurecht. Da gab es persönlichen Animositäten. So haben sich die Demonstrationen auch nicht aus den Friedensgebeten heraus entwickelt, sondern wir sind als Neues Forum im Paulskirchenkeller bei den wöchentlichen Versammlungen gedrängt worden. Großes Problem war, „Wir werden nicht mehr betankt in Leipzig, wenn die unser Schwerin-Kennzeichen sehen. Jetzt müssen wir hier auch mal was machen.“ Und dann wurde halt der Beschluss gefasst, jetzt am 23. Oktober, zack, muss die Demonstration stattfinden. Und ehe so ein Beschluss gefasst wird, das dauert halt. Und deswegen denke ich, waren wir mit der ersten Demo hier spät dran.

Sie gelten ja als Vater dieser Demonstration. Wie war Ihre Rolle in der Vorbereitung?

Ich glaube, das ist eine falsche Einschätzung. Ich habe das zwar mit auf den Weg gebracht und auch mit angefangen, das zu organisieren, aber zum Beispiel sind drei Leute von der Pinnower Gruppe zum Volkspolizei-Kreisamt gegangen, an dem Sonnabend vor der Demo, und haben dort gesagt, „Wir wollen mal Bescheid sagen, nächsten Montag gibt´s `ne Demo und wir wollen dort und dort langgehen.“, worauf der Wachhabende natürlich sagte, „Kommen Sie mal rein.“ – „Nee, wir haben gar keine Zeit. Wir müssen weiter.“ Nein, es gab ganz viele, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. Es gab die Gruppe aus dem Paulskirchenkeller, es gab den Lesekreis, den wir halt lange Jahre vorher schon hatten.

Was hat Sie persönlich bewogen, sich zu engagieren?

In erster Linie der Druck, den die DDR-Verhältnisse auf mich ausgeübt haben. Dieses permanente Eingebunden-Sein in Gruppenzusammenhänge, ob als Lehrling, während der Armee, während des Studiums, dann auch im Betrieb. Überall wurde man als Bestandteil einer Gruppe behandelt. Ein erwünschtes Verhalten, normiertes Verhalten wird ja auch durch so einen Gruppendruck erzwungen. Und dieser Gruppendruck entsteht auch durch die Verhältnisse, zum Teil durch die Angst vor der Staatssicherheit, vor der Polizei, aber eben auch auf Druck der SED, die natürlich die Möglichkeiten von Karriere vorgibt durch eben angepasstes Verhalten. Mich hat immer geärgert, dass die Leute sich anpassen.

Und dann ist es eine interessante Feststellung gewesen, die mir immer wieder begegnet ist, dass ich, wo ich hinkomme, mit dieser Einstellung Leute kennenlerne, die auch so eine Einstellung haben. Und das geht ganz schnell. Irgendwie hat man dann eine Witterung dafür, welche Leute meine Einstellung teilen. […]

Und dann kommt man eben auch in andere Gruppen rein, in kirchliche Gruppen, in den Friedenskreis zum Beispiel, und kommt faktisch – heute würde man wahrscheinlich sagen – in eine Parallelgesellschaft. Und dann habe ich beispielsweise auch für mich die Kirche oder eigentlich nicht die Kirche, sondern die Gemeinden, in deren Friedenskreise oder andere Gruppen ich reingekommen bin, als diesen Freiraum, als eine Solidargemeinschaft, als einen Schutz auch gegen die Verhältnisse wahrgenommen.

Dann beschäftigte ich mich nach und nach mit der Literatur, die man da bekommt, mit den Entwicklungen in der Bundesrepublik. Dann nimmt man die Friedensbewegung war, man nimmt die Ökologiebewegung, die Anti-Atom-Bewegung der Bundesrepublik wahr.

Wie sind Sie zum Neuen Forum gekommen?

Durch die Gruppe, durch den Lesekreis, den wir in Schwerin gehabt haben. Wir haben dort von Rolf Henrich „Der vormundschaftliche Staat“ gelesen. Und zufällig hat eine Freundin, die auch mit in dem Lesekreis war, Uta Loheit, mit Rolf Henrich in Berlin zusammen in einem Chor gesungen. Rolf Henrich hat ihr erzählt von einem Treffen, von diesem Vorbereitungstreffen. Aber Uta konnte nicht an dem Wochenende. Und ich habe gesagt, dann fahre ich dahin, sonst wissen wir ja hier wieder von nichts.

Dann hat Uta Loheit mich da angemeldet bei Rolf Henrich und der sagte: „Nee, das geht nicht. Hier können nur Bekannte kommen.“ Dann habe ich den Siegbert Schefke angerufen und habe zu ihm gesagt: „Hör´ mal, du kennst die doch alle. Du musst mich da mal rausfahren. Und dann stellst du mich denen vor und dann bin ich dabei.“ Und so haben wir das auch gemacht. Und dann war ich halt in dem Kreis drin.

Haben Sie versucht, das Neue Forum in Schwerin zu legalisieren?

Ja. Wir haben natürlich sofort angefangen, Unterschriften zu sammeln. Ich war am 10. September wieder in Schwerin und wir haben dann angefangen mit Unterschriftenlisten, wo oben drüberstand: „Ich erkläre mich mit den Zielen und Forderungen des Neuen Forum einverstanden.“ Dann haben sich die Leute in die Listen eingetragen, richtig mit Name und Adresse und Beruf. Und Uta Loheit und ich haben es am 19. September beim Rat des Bezirkes, Abteilung Inneres angemeldet als politische Vereinigung für einen Reformprozess in der DDR, für Veränderung, vor allen Dingen erstmal für einen Diskussionsprozess.

Dann wurden wir ein paar Tage später zum Gespräch eingeladen. Es wurde uns mitgeteilt, dass die Verbindung Neues Forum von den zuständigen Organen der DDR als staatsfeindlich betrachtet wird und dass wir sofort alle Aktivitäten einzustellen hätten und ansonsten mit Konsequenzen rechnen müssten. Eine Begründung war noch, dass sie gesagt haben, in der DDR sind mit den vorhandenen Organisationen und Institutionen sämtliche gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Selbstorganisation abgedeckt. Für das Neue Forum besteht gar kein Bedarf. Zu dem Zeitpunkt hatten wir schon mehrere Hundert Unterschriften in Schwerin.

Aber da war der Prozess ja nicht mehr aufzuhalten. Wir haben selbstverständlich die Versammlungen weiter gemacht, wir haben die Organisation weiter getrieben und es wurden auch immer mehr Leute, bei denen zu Hause Listen lagen und wo sich Leute getroffen haben und unterschrieben haben.

Was waren für Sie konkret die Ziele und Themen?

Bei mir stand ganz oben das Thema Selbstverwaltung. Ich habe mir vorgestellt, dass wir die Verwaltungspyramide in der DDR auf den Kopf stellen. Ich habe gedacht, dass sozusagen die Kommune der wichtigste Bereich wird.

Ich habe damals auch gedacht, dieser Reformprozess, den wir hier anstoßen, das wird für mich und für uns eine lebenslange Geschichte. Das können wir nicht nach ein paar Jahren wieder aufgeben.

Dann natürlich der Umbau der Wirtschaft, die Wiedereinführung von nichtstaatlichen Betrieben, Initiativen usw., und selbstverständlich eine Ökologisierung der Landwirtschaft. Ich habe damals auch die Position vertreten, Grund und Boden sollten nicht Privateigentum werden.

Was hat der Mauerfall am 9. November mit der Bewegung gemacht?

Mit dem Mauerfall setzte im Grunde genommen sofort ein Differenzierungsprozess ein. Innerhalb weniger Wochen war klar, das Gegenüber zieht sich zurück. Die SED mit allem, was dazu gehört, zieht sich zurück und mit dem fehlenden Gegenüber rückte mehr die Frage in den Vordergrund, was wir eigentlich wollen. Und dann setzte sozusagen die Auflösung ein. Dann sind vom Neuen Forum, von der Bürgerbewegung Menschen zur CDU, zur SPD und zu den Grünen gegangen. Oder sie haben Vereine gegründet oder eine soziale Initiative. Also die Neues Forum-Gruppen zerfielen, die Arbeitsgruppen zerfielen.

Es wurde darüber diskutiert, wollen wir soziale Marktwirtschaft, überhaupt Marktwirtschaft. Was heißt das überhaupt, was bedeutet das? Und da ist man sich ganz schnell uneins. Es ist überhaupt kein Problem, sich über solche Fragen zu streiten. Bis dahin waren das ja alles nur Absichten. Und jetzt war das an dem Punkt, wo das praktisch werden musste. Deswegen setzt mit diesem Differenzierungsprozess das Ende der Bürgerbewegung ein.

Ganz deutlich wurde das auf dem Gründungskongress des Neuen Forums im Januar 1990 in Berlin, als Joachim Gauck als Rostocker Delegierter dort auftrat und sagte, das Neue Forum setze sich vorbehaltlos für die deutsche Wiedervereinigung ein. Da ging der ganze Saal hoch. Die eine Hälfte protestierte, die andere Hälfte applaudierte.

Dieser Auflösungsprozess endete im Grunde genommen mit der Volkskammerwahl im März, als dann klar war, wir landen irgendwie so bei zwei sowieso Prozent und sind absolut marginalisiert.

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